Denn bittersüß ist der Schnee - Lene Beckers dritter Fall (Lene Becker ermittelt) (German Edition)
wieder einmal kam. Sonst genossen sie immer ihre Besuche in Nürnberg in Zweisamkeit oder zu viert – aber die smal war Mike wichtig.
Mike stand schon in der Tür und streckte die Hand aus nach den Autoschlüsseln. Dankbar überließ sie sie ihm und sank in den Beifa hrersitz. Später auf der Autobahn fand sie im Handschuhfach das Buch, das kleine Brevier . »Noch ein Gedicht?«, fragte sie Mike.
Der nickte. »Schade, dass ich das Original nicht verstehe. Ja, lies mal. Ich mag deine Stimme hören, wenn sie b erührt ist, selbst wenn ich nicht verstehe, was du liest. Du übersetzt es dann für mich, ja?«
Aber Lene wusste, dass ihre Übersetzung nicht an die ausdrucksvoll ve rwobene Sprache heranreichen konnte, an diese Sprachbilder, diesen ganz persönlichen Rhythmus.
Da war ein Wille, aus dem die Tat entsprang
die flüchtigen Stunden zu meistern und zu erhalten,
die Zeit im Wesen vergewaltigend, sie zu beherrschen.
Das scheueste Element zu zwingen war sein Plan.
Vergessen war der Gleichklang reger Uhren,
versunken der Schlag der vielen Glocken.
Das All ruhte schwer und sank hernieder
wie ein Schwarm müder, verirrter Schwäne,
ohne Ziel und Erfüllung, ohne Sinn und Kraft,
und verschwamm im dicken Fluss träger Gedanken
den Menschen tragend, wie ein Sirup Fliegen trägt,
anhaftend zäh und süß, im Ende doch vernichtend.
Da war kein Sein, kein War, keine Zukunft, noch Gestern,
nur der Bruchteil eines stillgelegten Schaffens, jetzt,
kein Wille, keine Ausführung, kein Empfinden, keine Tat.
Rosen blühend voller Frische
Trieben Dornen tief in schläfrige Gewissen,
sie empörend, und zu wecken ihrer Traumlust Wahn.
»Das hat er sicher später geschrieben. Man atmet in jedem Wort die reif gewordenen Gedanken ein, die Schwere seiner hoffnungslos gewordenen Liebe. Ein Versinken in der sinnlos gewordenen Zeit. Aber übersetzen ist da zu schwierig.«
Lene kehrte in Gedanken zurück zu dem Bambusschaukelstuhl und den fallenden Schneeflocken vor dem Fenster. Melanie, du musst uns helfen, deinen Mörder zu finden. Dein Tod genau zu diesem Zeitpunkt – als ihr euch endlich wiedergesehen habt, ich verstehe das nicht.
»Wie ist es ihr wohl gegangen, als sie dieses Buch damals gelesen hat? Die Schwere seiner Depression gefühlt hat, vor sich das spielende Kind, sein Kind? Und nun endlich ist er wieder da, und sie wird e rmordet. Wir müssen ihren Mörder finden, um dieser Zeilen willen. Wegen dieses Büchleins einer verzweifelten Liebe. Schon deshalb.«
Sie gingen noch einmal alle Facetten durch, alle Vermutungen. Lene e rzählte von ihrem Besuch bei Frau Breitner. Von Kilian Breitner und seiner Festnahme gerade an Sonntag, als Melanie Merthens, seine verhasste Lehrerin, ermordet aufgefunden wird.
Lene drehte den Kopf zu Mike.
»Fällt dir auch etwas auf? Wir haben noch gar nicht versucht herauszufinden, wann er festgenommen wurde. Wenn ich mir so zuhöre - wir sollten uns vielleicht bei dem Hass auf seine Lehrerin auch mit ihm beschäftigen.«
Dann besprachen sie den Vorwurf des illegalen Holzschlags im Naturschutzgebiet, mit dem sich Matthew Shiller auch noch herumschlagen mus ste.
»Das ist eine sehr schwerwiegende Sache in Kanada«, sagte Mike ernst und erzählte ihr von seinem Telefonat mit Bill Edwards. Lene freute sich über diese Initiative. »Das hilft uns wirklich. Und ihr als Amerikaner bekommt sicher eher Auskunft als wir hier, die sich das alles dort nicht richtig vorstellen können. Ich bin gespannt, was Bill e rreicht.«
»Ich warte noch auf seinen Rückruf. Aber eins ist schon sicher. Das wird hart geahndet und kann sein ganzes G eschäft ruinieren. Die Strafen sind nicht nur horrend hoch, sondern auch sein Ruf würde dadurch immens leiden. Das ist wirklich eine existenzbedrohende Anschuldigung.«
»Nur – er setzt sich doch für geschützte Gebiete ein . Das gibt doch gar keinen Sinn! Er macht sicher nicht so etwas. Also wer? Seine Frau, sein Neffe? Den wir übrigens noch gar nicht gesehen haben. Mit beiden müssen wir uns unterhalten. Und wir brauchen die Fingerabdrücke zum Vergleich. Die zwei haben wir glatt vergessen. Was könnte dieses Holzvergehen mit dem Mord zu tun haben? Hast du da eine Idee?«
Mike setzte den Blinker und fuhr auf die Autobahn nach Schwei nfurt. Er antwortete erst, als er sich wieder in den fließenden Verkehr eingereiht hatte.
»Du hast es eigentlich schon gesagt. Was beides verbindet, ist die Uneh rlichkeit. Oder zumindest das Verbergen Einmal wegen
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