Denn das Glueck ist eine Reise
landen.
Während Adèle an den Ärmeln ihres Pullovers zupfte und sich nicht traute, ihre Mutter anzusehen, fuhr Françoise schließlich fort.
»Weißt du, Adèle, dein Großvater war schon lange krank. Seit mindestens fünfzehn Jahren. Und seit sechs Jahren, seit Omas Tod, habe ich mich um ihn gekümmert. Ich war alles, was er hatte. Ich konnte ihn nicht im Stich lassen, und ich war die Einzige, die da war. Du weißt, dass er medizinische Hilfe und überhaupt fremde Hilfe immer abgelehnt hat. Seit sechs Jahren habe ich mit den Ärzten gesprochen, seine Angelegenheiten ›für den Fall der Fälle‹ geregelt und im Grunde alles für ihn gemacht. Wie oft habe ich ihn in diesen sechs Jahren umarmt und gedacht, es sei vielleicht das letzte Mal? Wie oft bin ich zu ihm hingeeilt, weil ich dachte, jetzt ist es vorbei? Und in diesen sechs Jahren ist in meinem Leben auch viel passiert. Weißt du, mit deinem Vater, das war auch nach der Scheidung nicht leicht. Und als ich dann Patrick kennengelernt habe, wurde genau zur gleichen Zeit bei Opa ein Magengeschwür festgestellt, das war wirklich schlimm. Du erinnerst dich vielleicht nicht mehr daran. Ich habe mehr Zeit damit verbracht, mich um ihn zu kümmern als um mich oder um ... na ja.«
Françoise zögerte, ehe sie fortfuhr. »Und dann eines Tages im letzten Jahr musste ich eine Entscheidung treffen, weil es einfach nicht mehr so weiterging.« Ihr versagte beinahe die Stimme, und Adèle entdeckte eine Verletzlichkeit bei ihrer Mutter, die sie niemals vermutet hätte. Sie griff schüchtern nach ihrer Hand, doch Françoise entzog sie ihr sanft.
»Ich erspare dir die Details, mein Schatz, denn jetzt geht es mir auch wieder viel besser, glaub mir. Ich brauchte dringend eine Auszeit. Als ich mit Freunden darüber gesprochen habe, die Ähnliches durchgemacht haben, und dann auch mit einem Psychologen ... ist mir vieles klar geworden.«
Sie verstummte und atmete tief ein. Adèle betrachtete das Gesicht ihrer Mutter. Sie hatte dunkle Schatten unter den Augen und sah älter aus.
»Ich musste zulassen, dass dein Großvater sein Leben lebte. Auch wenn das bedeutete, ihn gehen zu lassen – und ich meine wirklich gehen zu lassen –, denn das war es, was er wollte. Und gleichzeitig musste ich mein eigenes Leben leben. Wir waren beide unglücklich. Ich klammerte mich an ihn und wollte ihn in Watte packen, wie er es nannte. Und das stimmt wahrscheinlich auch. Wir brauchten beide Luft zum Atmen. Über all das habe ich oft mit Thérèse gesprochen, und sie hat mit mir über Charles’ Probleme gesprochen. Eines Tages erzählte sie mir von ihren Plänen der Tour de France und von ihren Hoffnungen, dass sich die Reise positiv auf Charles’ Erkrankung auswirken könnte. Ich wusste, dass dein Großvater nur auf eine solche Chance gewartet hatte, denn das war eine Möglichkeit für ihn, sich aus dem Staub zu machen, auch wenn er dadurch ein großes gesundheitliches Risiko einging. Doch wenn ich in seiner Nähe geblieben wäre, wäre er niemals gefahren. Darum sagte ich mir, dass das die Gelegenheit sei. Ich bin nach Lima zu einem Freund gefahren, um Abstand zu gewinnen. Es war sehr schwer, diese Entscheidung zu treffen. Thérèse versprach mir, mich auf dem Laufenden zu halten. Als Opa ins Krankenhaus kam, rief sie mich an, aber ... ich bin nicht sofort nach Hause geflogen. Krankenhäuser habe ich genug mit dem Großvater gesehen, weißt du. Und innerlich hatte ich mich vielleicht auch schon von ihm verabschiedet.«
Françoise stützte den Kopf in die Hände. Ihre Schultern bebten unmerklich. Adèle nahm sie in die Arme. Ihre Wut war verflogen. Als die Sonne die Wolken durchbrach, bildeten sich riesige Schatten auf den Bodenfliesen des Flughafengebäudes. Alles war ruhig.
Als der Regen eine Stunde später wieder einsetzte, hallte das helle Lachen der beiden Frauen durch das Flughafengebäude. Denn diese Tour de France, die ihre kleine Familie für immer verändert hatte, brachte immer noch amüsante Anekdoten hervor, die Adèle hier und da ausschmückte, um ihre Mutter zum Lachen zu bringen. Indem sie mit ihrem Handy als Gedächtnisstütze nach und nach alle Episoden schilderte, bewies sie ihrer Mutter, dass diese die richtige Entscheidung getroffen hatte.
Schließlich verließen sie den Flughafen und fuhren in einem Leihwagen zum Grand Hôtel in Poitiers. Françoise, die sich vor dem Augenblick fürchtete, das leere Haus ihres Vaters zu betreten, hatte in dem Hotel zwei Zimmer
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