Denn das Glueck ist eine Reise
Tracht Prügel verzeihen und sich anschließend in die Arme fallen.
Aber war das die Wahrheit? Nein, natürlich nicht. Der wahre Grund war viel schwerer zu erklären. Schließlich unterbrach Adèle ihren Großvater und umfasste seine Hand.
»Opa, ich erinnere mich nicht mehr daran, dass du mir den Hintern versohlt hast. Ich schwöre, das ist die Wahrheit. Ich versuche, mich zu erinnern, aber ich erinnere mich nicht. Ich erinnere mich an die Krippenfiguren und die kleinen Lichter überall, und ich erinnere mich, wie wunderschön die Krippe war. Aber an den Rest, nein ...«
Adèle verstummte. Plötzlich hatte sie einen Kloß im Hals, und ihre Stimme bebte. »Es tut mir leid, dass ich nicht eher gekommen bin ... Nein, es hat nichts damit zu tun, dass du mich damals gehauen hast ... Es ist einfach so ... ich habe nicht bemerkt, wie die Zeit vergeht ...«
Ihr Großvater schwieg.
Er hätte ihr fast ein wenig wie Irving Ferns antworten können: »Ach, die Zeit, ja, sie ist vergangen, mein Kind. Die Alten, die bemerken es gut, wie die Zeit vergeht. Freunde sterben, sie verlieren den Kontakt zu ihren Enkelkindern und leben nur noch in den Erinnerungen. Die jungen Leute aber, sie wissen nichts über die Zeit. Sie sind unbezwingbar, immer in Eile und unerreichbar.« Aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, sich gegenseitig Vorwürfe zu machen. Er wollte sich für seinen Fehler entschuldigen. Und das hatte er getan.
Jetzt war Adèle an der Reihe. Und dafür musste sie ihm die Geschichte von Irving Ferns erzählen.
Dienstag, 16. September
London
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Irving Ferns war in erster Linie aufgrund seiner äußeren Erscheinung engagiert worden. Agatha Christie hatte ihre Romanfigur, den dreiundachtzigjährigen Aristide Leonides, als kleinen, hässlichen Mann mit einem unglaublichen Charme beschrieben, der die Frauen verzauberte. Kurzum, selbst für die beste Castingagentur war diese genaue Beschreibung ein Albtraum. Es stellte sich heraus, dass Irving Ferns ungefähr dasselbe Alter hatte, eher klein und wirklich hässlich war. Er hatte tatsächlich einen unwiderstehlichen Charme, aber seine sechzigjährige Theater- und Filmkarriere ging allmählich dem Ende zu. Irving, wie ihn alle nannten, hatte auf der Bühne und beim Film große Erfolge gefeiert. Doch als er die sechzig überschritten hatte, musste er sich mit kleinen, schlecht bezahlten Fernsehrollen begnügen. Als er aus dem Taxi stieg und Adèle ihn begrüßte, machte er einen starken Eindruck auf sie. Der Grund dafür war vielleicht, dass sich alles an Irving Ferns – seine Blicke, Gesten und seine Körperhaltung – entschuldigte, nicht mehr jung zu sein. Schweigend und verzweifelt schien er gegen das verhasste Alter anzukämpfen. Doch das war vergebliche Mühe. Adèle wusste, dass ihn sein Alter hier inmitten der vielen Jungen isolieren würde. Da er Schwierigkeiten beim Gehen hatte, bot sie ihm ihren Arm an. Anfangs sprachen sie über uninteressante Dinge, und während sie sich über Alltäglichkeiten austauschten, wurde Adèle bewusst, dass dieser Mann alleine lebte. Sein Hemdkragen war zu weit, und sein magerer Hals erinnerte an den eines Huhns. Abgesehen von ihren Großeltern, zu denen sie aber kaum Kontakt hatte, kannte Adèle – wie die meisten jungen Städter – keine »alten Leute«, von denen in der Presse gesprochen wurde. Die Alten hatten London verlassen. Waren sie gegangen, oder waren sie verjagt worden? In den Straßen waren die Jungen die Könige: die Karriereleute, die aufstrebenden jungen Männer, die It-Girls, die Yuppies und deren reiche Eltern, die Immigranten, die Immigranten der zweiten Generation und die Neuankömmlinge allgemein – sie alle waren jung. Wenn sie mit Irving Ferns sprach, war es so, als würde sie mit einer fiktiven Figur sprechen, die sie nur aus Zeitungsartikeln kannte. Während sie Mitleid erfasste, fand Irving Ferns die nötige Energie, um die Gemeinplätze außen vor zu lassen und ein ganz anderes Gespräch mit ihr zu beginnen.
Zwischen ihnen stimmte die Chemie. Irving musste wissen, dass es Adèles Aufgabe war, nett zu ihm zu sein, doch der alte Mann fasste die Gelegenheit beim Schopfe, um sich mit ihr zu unterhalten. Adèles freundliches Wesen überzeugte ihn schließlich, und er begann mit ihr ein sehr vertrauensvolles Gespräch. Zunächst waren beide noch ein wenig zurückhaltend, doch dann entwickelte sich eine lebhafte Unterhaltung. Nach und nach hörte der Altersunterschied auf, von
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