Denn dein ist die Schuld
Verschiedenes vorgefallen, über das wir Sie informieren müssen …«
»Schlechte Nachrichten? Haben Sie … den Jungen gefunden?«, fragte der Priester, dessen Stimme vor Angst zitterte.
»Gute und schlechte. Aber wir wären Ihnen sehr verbunden, wenn Sie uns aufs Präsidium begleiten würden. Wir haben einen Termin beim Leiter des Mobilen Einsatzkommandos, der zurzeit ein Gespräch mit dem Erzbischof führt.«
»Seine Eminenz!«
Die Hände des Priesters gingen zunächst zu seinen halbrasierten Wangen, ehe er sie instinktiv wie im Gebet faltete.
Hände eines zittrigen alten Mannes.
Seit ihrer ersten Begegnung schien der Pfarrer um zehn Jahre gealtert zu sein. Sogar seine Stimme hat sich verändert, dachte Marino. Jetzt klang sie unsicher, und sie strahlte keine Autorität mehr aus, wie bei alten Menschen, die sich hilflos und schwach fühlen.
»Kann ich meine Rasur noch beenden?«
»Ja, aber bitte beeilen Sie sich«, sagte die Leoni drängend, was ihr einen bösen Blick ihres Vorgesetzten eintrug.
»Führen Sie zu Ende, wobei Sie gerade waren.« Marino klang deutlich versöhnlicher. »Doch beeilen Sie sich nach Möglichkeit.«
»Aber natürlich, Seine Eminenz darf man nicht warten lassen …«, sagte der Priester und wandte sich zum Bad.
Eine halbe Stunde später drängten sich so viele Leute in Dottor Ardazzones Büro, dass man mehrere Stühle dazustellen musste. Der Erzbischof saß im Drehsessel vor dem Chefschreibtisch. Um ihn hatten sich Marino und die Leoni, Tenente Colonnello Sereni, die Polizeibeamten Ragazzoni und Pogliani und der stellvertretende Polizeipräsident Carlo Martinelli versammelt.
Man wies Don Mario Speroli einen Platz neben dem Erzbischof an, den er mit gerührter Stimme begrüßte wie ein Schiffbrüchiger, vor dem plötzlich der Kapitän seines Schiffes steht, nachdem er sich schon damit abgefunden hatte, der letzte Überlebende auf einer einsamen Insel zu sein.
Im Zimmer befanden sich zwei weitere Personen, die Marino nur vom Sehen kannte. Der Leiter des Mobilen Einsatzkommandos stellte sie knapp als »Dottoressa Carmela Scurato und Commissario Sandro Laurenti von der SCO« vor.
Organisierte Kriminalität, dachte Marino. Haben sie sich endlich entschlossen einzugreifen!
Angesiedelt im Zuständigkeitsbereich des Innenministeriums, Abteilung Öffentliche Sicherheit - Zentrale Leitung der Verbrechensbekämpfung, war die Zentrale Leitstelle der Kriminalpolizei SCO der Bezugspunkt für sämtliche Büros der Kripo bei allem, was das organisierte Verbrechen betraf.
SCO hieß, dass es um die Mafia ging.
Praktisch ein Gipfeltreffen ohne Staatsanwälte, dachte der Ispettore Capo erleichert, als er seine Kollegen mit einem Kopfnicken begrüßte. Er kam nicht sehr gut mit Dottor Carlo Maria Salvini und der Scauri aus.
Als zwei Beamte Don Mario eine Stunde später in einem Zivilfahrzeug ins Pfarrhaus zurückbrachten, stand er zwar offiziell immer noch unter Hausarrest, da diese Präventivmaßnahme nur von einem Staatsanwalt aufgehoben werden konnte und die Formulierung eines entsprechenden Antrags dauern würde, doch für die Polizeiorgane galt er als entlastet.
Zumindest von den schlimmsten Anschuldigungen.
Er hatte eine neue Aussage unterzeichnet, in der er sein früheres Geständnis zurückzog. Laut Gesetz erwartete ihn noch ein Verfahren wegen eines in Artikel 369 der Strafprozessordnung aufgeführten Straftatbestandes, nämlich falscher Selbstbezichtigung, was mit einem bis drei Jahren Haft bestraft werden konnte. Doch der Richter würde bestimmt die Gründe und Umstände berücksichtigen, die ihn veranlasst hatten, ein falsches Geständnis zu unterzeichnen. Vor allen Dingen nach den Vereinbarungen, die er mit den Ermittlern der Justizbehörden in Gegenwart des Erzbischofs getroffen hatte.
Mit größter Wahrscheinlichkeit würde die Angelegenheit zu den Akten gelegt.
Nachdem Don Mario vom Seiner Eminenz persönlich entlastet worden war, mit dem Brief, den er losgeschickt hatte, ehe er sich im Präsidium selbst angezeigt hatte, betrat er seine Wohnung so heiter und beschwingt wie schon lange nicht mehr. Jetzt musste er diese quälende Last nicht länger allein tragen. Jetzt würde es ihm nicht weiter schwerfallen, im Pfarrhaus zu bleiben, selbst wenn er nun rund um die Uhr von zwei Polizisten in einem Zivilfahrzeug bewacht wurde. Anfangs hatte er dagegen protestiert.
»Ist diese Überwachung denn nötig?«, hatte er den Leiter des Mobilen Einsatzkommandos gefragt, als der
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