Denn dein ist die Schuld
Verwandten von Camorristi besser fernhielt wie von Tigern im Zoo, weil sie auf ihre Weise gefährlich und unantastbar waren. Unter gewissen Umständen konnte man, je nachdem, welche Gründe man hatte oder wie mutig man selber war, diese Bestien verprügeln, einsperren, an- oder auch erschießen, aber auf gar keinen Fall durfte man sie anzeigen.
Eine Anzeige war eine feige Beleidigung, und wenn der Camorrista eine einigermaßen mächtige Verwandtschaft hatte, dann überlebte man das nicht.
Marino war sich dessen natürlich bewusst, aber als er die Verstärkung gerufen hatte, um den wie ein Grizzlybär in Unterhosen tobenden Sasà zu bändigen, kam er aus der Sache nicht mehr raus. Gesetz ist Gesetz, und schließlich führten seine Kollegen da einen mehrfach Vorbestraften ab, der trotz der Bewährungsauflagen eine Waffe trug, mit der er einen Polizeibeamten in dessen eigener Wohnung bedroht hatte. Da der zuständige Richter ihm ohnehin die Bewährung streichen und ihn ins Gefängnis schicken würde, sollte der ihm noch ein halbes Strafgesetzbuch oben drauf packen, damit der Kerl so lange wie möglich dort blieb.
Das hatte der Familie selbstverständlich nicht gefallen.
Um den feigen Bullen und Verräter, der so blöd gewesen war, sich Hörner aufsetzen zu lassen, auszuschalten, wurde eine paranza organisiert, und zwei Tage später schnappte die Falle zu.
Der Befehl lautete eigentlich, nur Marino zu töten, aber man weiß ja, wie so etwas läuft: Ein Schuss zieht den nächsten nach sich, und diese mit Kalaschnikows bewaffneten Kerle hatten schließlich einfach losgeballert.
Lucia wurde tödlich getroffen.
Und Vincenzo war mit kollabierter Lunge, durchlöchertem Magen und einem zerschmetterten Knie auf der Intensivstation der Cardarelli-Klinik gelandet.
Erst nach Monaten erwachte er aus dem Koma. Und es hatte weitere Monate gedauert, bis er sich aufrichten und seine Arme und Beine bewegen konnte. Als er wieder zum Dienst antrat, hatte man ihn zum Ispettore Capo befördert und zur Abteilung Verbrechensbekämpfung nach Mailand versetzt, denn als Polizist war er in Neapel verbrannt und als Mensch so gut wie tot, alle schienen auf seiner Uniform über den Rangabzeichen schon ein Kreuz zu sehen, und sein Schicksal galt als besiegelt.
Der Mann, der daraufhin in den Norden gezogen war, war nicht mehr der alte Vince: ein sympathischer, freundlicher Typ, mit viel Humor und Herz. Aus ihm war ein müder, depressiver Mann geworden, ohne Hoffnungen oder Erwartungen, was sein eigenes Leben betraf, und aus diesem Grund hatte er auch wenig Mitgefühl für seine Mitmenschen.
Ein Bulle, den viele nicht mochten, alle jedoch respektierten und fürchteten.
Fernab seiner Heimatstadt leben zu müssen fiel Vincenzo Marino schwer, aber er lebte, zumindest körperlich: Er stand morgens auf, lief durch die Straßen, atmete, arbeitete, aß etwas und brach am Abend todmüde im Bett zusammen.
Wo er in einen bleiernen Schlaf fiel, rabenschwarz wie seine Gedanken und absolut traumlos.
Sein Leben war zu dem eines unfreiwilligen Singles geworden. Ein beschissenes Leben mit Hemden aus der Reinigung und Fertigmahlzeiten, die er sich in der Mikrowelle warm machte und dann direkt aus den Plastikschälchen aß, Möbeln, die immer eine dicke Staubschicht zierte, und einer vor schmutzigem Geschirr überquellenden Spüle.
Eine zornige Existenz, die weder Sehnsucht noch Einsamkeit kannte, denn seine Gefühle waren zu einer merkwürdigen Apathie verkommen, die seine Mitmenschen mit Härte und Gleichgültigkeit verwechselten.
Er lebte in einem Miniappartement im Garibaldi-Viertel, für das er eine unverschämt hohe Miete zahlte. Das ist nur für den Übergang, hatte er sich vor fünf Jahren gesagt, als er den Vertrag für diese vierzig Quadratmeter voller überflüssiger Möbel unterschrieben hatte. Aber mit der Zeit hatte er sich so an diese Zweizimmerwohnung gewöhnt, dass er sie als sein »Zuhause« ansah.
Zuhause im Sinne von »sicherer Zuflucht«: eine Höhle, in der man nachts einschlafen konnten, ohne sich jedes Mal fragen zu müssen, ob man am nächsten Morgen auch wieder aufwachen würde.
Eine leere und trostlose Existenz? Nein, so sah das der Ispettore gar nicht, denn er hatte zwar kein Privatleben mehr, dafür ging er völlig in seinem Beruf auf.
Vincenzo Marino war ein tüchtiger Ermittler, denn er besaß bei seinen Fällen die stoische Geduld eines Buddha und die grimmige Entschlossenheit eines Missionars. Darüber hinaus verfügte er
Weitere Kostenlose Bücher