Denn dein ist die Schuld
üblich heimschicken sollten.
So ein talentierter Junge, dieser Leonardo. Don Mario betrachtete ihn zufrieden wie einen eigenen Sohn, und in gewisser Weise war er das auch, denn er hatte ihn aufwachsen sehen und gerade noch verhindern können, dass er im Jugendgefängnis landete.
Eigentlich war es um nichts Schlimmes gegangen: ein wenig Marihuana, ein paar Joints, die man während seiner Zeit auf dem naturwissenschaftlichen Gymnasium in seinem Schulranzen gefunden hatte. Aber das hätte schon genügt, um sein Leben zu zerstören. Zum Glück war der Don auf eine verzweifelte Bitte der Mutter hin sofort zum Jugendgericht geeilt, um noch rechtzeitig zu einer Anhörung beim Richter zu kommen. Er hatte für den Jungen gebürgt und eine Art Vormundschaft übernommen, und dann wurde der Vorfall aus den Akten gelöscht.
Don Mario drückte nicht gern ein Auge zu, wenn er sah, wie sich jemand eine Tüte oder eine Spritze reinzog. Aber er war Realist. Er wusste, dass man in dieser Gegend die Jugend ebenso wenig von Drogen fernhalten konnte wie Bayern vom Bier.
Nachdem er Leonardo vom Jugendgericht abgeholt hatte, hatte er ihn zunächst mit ins Pfarrhaus genommen. Er hatte sich für eine gute Stunde mit ihm in sein kleines Büro eingeschlossen, und als die Tür wieder aufging, ließ Leonardo seinen Kopf so reumütig hängen, dass seine Ohren beinahe am Boden schleiften. Von da an hatte es mit ihm keine Probleme mehr gegeben.
Als kleiner Junge war Leonardo Messdiener gewesen. Er war jeden Tag pünktlich um sieben Uhr zur Frühmesse erschienen, selbst wenn dort nur die gleichen frömmelnden alten Frauen auftauchten, die immer kamen und keinen einzigen Gottesdienst, auch keine Gedenkmesse und kein Rosenkranzgebet, ausließen.
Leonardo kam wie Ivan aus schwierigen Familienverhältnissen. Seine Mutter schuftete den ganzen Tag hart, sie schrubbte Böden und Treppen in Mietskasernen, bügelte bei Privatleuten, und am Abend bediente sie noch bis zwei Uhr nachts in einer Pizzeria. Es war praktisch nie jemand zu Hause. Niemand fragte Leonardo, wie es ihm ging, ob er Hunger hatte oder etwas brauchte. Und vielleicht war das auch besser so, wenn sich sein Vater einmal blicken ließ, bewies er ihm seine Zuneigung mit dem Riemen.
Aber zum Glück gab es ja das Jugend- und Gemeindezentrum.
Am Nachmittag war Leo immer unter den Ersten, den Ranzen hinten auf dem Rücken und den Fußball unterm Arm. Und dort, in dem kleinen Saal, in dem auch die Ehevorbereitungskurse für Verlobte abgehalten wurden, dem einzigen Raum, der im Winter richtig geheizt wurde, machte er zunächst seine Hausaufgaben, später begann er mit den Fingerübungen auf dem Keyboard. Und wenn der Pfarrer oder dessen Hilfspfarrer Don Andrea ihn fragten, ob er sie begleiten wolle, um jemandem die Letzte Ölung zu erteilen, sagte er niemals nein. Denn im Gegenzug bekam er meist etwas Geld zugesteckt, wovon er seine Klavierstunden bezahlte. Dadurch konnte er mit vierzehn erfolgreich die Aufnahmeprüfung auf der Scuola di Musica ablegen und alle Kurse absolvieren.
Don Marios Fürsorge hatte sich gelohnt. Leo war nie vom rechten Weg abgekommen und hatte sich musikalisch weiterentwickelt. Nach dem Klavierexamen hatte er seine Liebe zur Orgel entdeckt und von Don Mario die Erlaubnis erhalten, auf dem großartigen Instrument der Kirche zu üben. Und seit er zum ersten Mal seinen Fuß auf diese schmale Empore gesetzt hatte, war diese zu einer Art Wohnzimmer für ihn geworden.
Sobald Leonardo sah, dass die Kinder eingetroffen waren, hielt er Ausschau nach Ivan. Er mochte ihn besonders, da er wusste, dass er eine genauso schwere Kindheit hatte. Und bis zum Abitur lag vor Ivan noch ein langer Weg voller Stolpersteine, immer in Gefahr, doch im Jugendknast zu landen.
Was für eine Zukunft hatte ein Junge denn zu erwarten, der in einer Art Niemandsland am äußersten Rand gleich zweier Gemeinden, Mailand und Rozzano, aufwuchs? In einem Wohnblock, der schon zehn Jahre vor seiner Geburt für unbewohnbar erklärt worden war? Wo überall die Asbestverkleidung hervorschaute und in der Hälfte der Wohnungen Hausbesetzer lebten?
Für Leo bestand die einzige Alternative zum Jugendzentrum in dem leeren, am Rand mit spärlichem Grün bewachsenen Platz, der zwischen den Sozialbauten klaffte wie ein Loch in einem faulen Zahn. »Piazzetta Meda« hatte mal auf einem Straßenschild gestanden. Aber seit dieses von unbekannter Hand mit schwarzer Lackfarbe übersprüht worden war, hieß dieses
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