Denn dein ist die Schuld
zubetonierte Rechteck bei allen nur noch »Piazzetta Medellin«.
Ein Name, ein Programm.
In der Gegend gab es guten Stoff zu kaufen. Zu jeder Tages- und Nachtzeit. Jeder unter sechzig, der auch nur einen Moment auf dem Bürgersteig stehen blieb, wurde sofort angesprochen: Willste was? Ein bisschen Gras? Speed? Oder lieber ein Piece Shit?
Leo mochte Ivan, weil sie viel gemeinsame Zeit im Jugendzentrum verbracht hatten, wo man sich manchmal zu Tode langweilte, und obwohl der Pfarrer ein bisschen grob war, hatte man dort wenigstens seine Ruhe. Hauptsache, man geriet nicht in Schwierigkeiten.
Und Ivan mochte Leo, weil er eben Leo war - das war ihm genug.
Leonardo war ein stiller Jugendlicher, der wegen seines ewigen Heuschnupfens, unter dem er viele Monate des Jahres zu leiden hatte, immer ein wenig kränkelte. Er war blass, hatte Myriaden rötlicher Sommersprossen im Gesicht und widerspenstige Haare, obwohl er erst fünfundzwanzig war, bekam er schon eine leichte Stirnglatze. Mit Sicherheit wirkte er nicht gerade attraktiv. Aber er besaß ein großes musikalisches Talent und verfügte über so viel Ausdauer und Fleiß, dass er sich tatsächlich zu einem virtuosen Berufsmusiker entwickelt hatte.
Neben der Orgel hatte er noch eine weitere Leidenschaft, Komposition. Leonardo träumte davon, eines Tages ein Werk wie Jesus Christ Superstar zu schreiben. Um sich weiter seinen Klavierunterricht finanzieren zu können, vermittelte er dicklichen, lustlosen Kindern Grundkenntnisse auf diesem Tasteninstrument und spielte auf Hochzeits- und Trauerfeiern.
Um Don Mario und auch Maestro Lucio Lovati einen Gefallen zu tun, hatte er sogar zugestimmt, den Chor auf der Orgel zu begleiten, wenn dieser nicht a cappella sang, und hatte dabei ein anderes großartiges musikalisches Talent kennen gelernt.
Ivan.
Und hatte sich natürlich in ihn verliebt.
An diesem Donnerstagabend - der Chor hatte schon Aufstellung genommen: die Erwachsenen hinten, Kinder nach vorne - wartete Leonardo ungeduldig darauf, dass Maestro Lovati endlich das Zeichen zum Anfangen geben würde, als die kleine Tür zur Sakristei links vom Altar aufging und Don Mario beinahe im Laufschritt die Kirche betrat.
Er wirkte ernst.
Nein, höchst besorgt.
Nachdem er vor dem Tabernakel mit dem gespenstisch flackernden Licht das Knie gebeugt hatte, stellte der Don sich neben den Organisten und bedeutete ihm, dass er das Keyboard ausschalten sollte.
Die Chorsänger verstummten schlagartig.
»Euch allen einen guten Abend. Buona sera , Maestro. Wie laufen denn die Proben? Kommt das mit dem Programm hin?«
»Na ja, ich glaube schon.« Maestro Lovati warf ihm einen neugierigen Blick zu. Es war das erste Mal seit Bestehen des Chores, dass der Pfarrer schon während der Proben vorbeischaute. Normalerweise wählte er gemeinsam mit ihm die Stücke aus und ließ ihn dann in Ruhe arbeiten. Doch er bekam sofort eine Erklärung, warum sich Don Mario so ungewöhnlich verhielt.
»Ihr habt bestimmt schon bemerkt, dass Ivan heute Abend nicht da ist«, begann Don Mario. »Aus diesem Grund bin ich gekommen. Die Nachricht ist noch nicht an die Presse gegangen, sonst wüsstet ihr es bereits alle. Man hat mich darüber informiert, dass unser Ivan am Dienstagabend nicht nach Hause gekommen ist. Seit er das Gemeindezentrum verlassen hat, um seine Schwester von der Schule abzuholen, hat ihn niemand mehr gesehen. Weder ihn noch Martina. Beide werden vermisst.«
Der Pastor machte eine Pause, verlegenes Schweigen breitete sich aus. Kurz darauf hob er eine Hand.
»Weiß zufällig jemand von euch etwas, und damit meine ich besonders die Kinder? Hat ihn jemand gesehen? Versucht, euch an den Dienstagabend zu erinnern. Überlegt, wann ihr ihm zum letzten Mal begegnet seid. Auch die unbedeutendsten Kleinigkeiten könnten wichtig sein, um die beiden Geschwister wiederzufinden. Ich sage euch das jetzt, damit ihr vorbereitet seid, wenn die Polizei kommt, um euch zu befragen.«
»Die Polizei?«
Leonardo konnte diese überraschte Frage nicht mehr zurückhalten, die ihm unwillkürlich durch die von der Kälte aufgesprungenen Lippen kam.
»Das ist doch nicht möglich.«
Der Pastor überging ganz bewusst die bestürzte Äußerung des Organisten hinter dem Keyboard. Er hatte bemerkt, dass ihn einige Kinder mit weit aufgerissenen Augen anstarrten, und wollte sie nicht mehr als nötig verängstigen.
»Ich hoffe, dass es gar nicht so weit kommen wird und die beiden Kinder bald heil und gesund nach
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