Denn die Gier wird euch verderben - Thriller
hier nicht.«
Sie zieht das Telefon aus der Tasche. Hält es tief, unsicher, wie weit das Licht des Displays zu sehen ist. »hütten am rautas«, schreibt sie. »gefahr, achtung vor maja.« Dann schickt sie die Nachricht an Krister, an Anna-Maria.
Sie versucht, das Klebeband von seinen Füßen und Händen zu entfernen, aber es sitzt felsenfest. Das Band um seinen Mund kann sie so weit nach unten ziehen, dass er besser Luft bekommt.
Sie versucht zu denken. Und sie versteckt Marcus. Bedeckt ihn mit Zweigen und geht mit Vera weiter. Viel weiter wird sie es auf keinen Fall schaffen. Sie fragt sich, ob sie wohl überhaupt wieder auf die Beine kommen wird. Maja wird sie einholen. Und dann wird Vera Maja zu Marcus führen. Vera ist doch nur ein ahnungsloser Dorfköter.
Es geht nicht. Es geht einfach nicht.
Oder doch. Es gibt eine Möglichkeit. Eine grauenhafte Möglichkeit.
»Komm her«, sagt sie zu Vera und hält Ausschau nach etwas Hartem. Einem Stein, einem Ast.
Da. Ein Ast.
Sie hebt ihn auf und lockt abermals den Hund.
»Hier, Süße«, sagt sie. Und Vera kommt.
F LISAN GEHT EINES S ONNTAGS im März 1926 aus der Kirche nach Hause. Frans Olof ist zehn Jahre alt. Der Junge geht wie ein Erwachsener neben ihr her und hat ihren Arm gefasst. Johan Albin setzt keinen Fuß in die Kirche, während Frans sie getreulich begleitet, auch wenn er offenbar weder eine gute Predigt noch die wunderschöne Musik der Heilsarmee zu schätzen weiß.
Vielleicht weiß er den Spaziergang durch Luleå zu schätzen. Weil sie dann Zeit haben, miteinander über alles Mögliche zu reden, nur sie beide. Vielleicht, weil sie manchmal danach noch ins Café Norden gehen. Vielleicht ahnt er auch nur, wie viel ihr das bedeutet. Und macht es ihr zuliebe.
Als sie sich der Wohnung in der Lulsundsgata nähern, steht ein Mann vor dem Haus. Flisan erkennt ihn nicht sofort, obwohl er ihr aus der Ferne sehr bekannt vorkommt. Dann sieht sie, dass es Direktor Lundbohm ist. Wie alt er geworden ist! Sein Gesicht hängt schlaff herunter, und er stützt sich wie ein Greis auf den Zaunpfosten.
Bei seinem Anblick hämmert ihr Herz los. Vielleicht packt sie Frans am Arm, denn er mustert sie besorgt von der Seite.
»Was ist los, Mutter?«, fragt er.
Aber sie kann nicht antworten, denn jetzt sind sie beim Tor und bei Lundbohm angekommen.
Hjalmar Lundbohm macht einige vorsichtige Schritte vorwärts. Er hat Angst, der Schwindel könne ihn überfallen, hat Angst, plötzlich zu stolpern. In einem Strauch neben ihm sitzt eine zwitschernde Spatzenschar.
Er versucht, sein Inneres zur Ruhe zu mahnen.
Das ist nicht leicht, wenn er den Jungen sieht. Der Kleine ist seiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Die gleiche Wolke von hellen Locken um seinen Kopf. Flisan, die sonst so ordentlich ist, hat ihm die Haare nicht sonderlich kurz geschnitten, aber das kann man verstehen, er sieht aus wie ein Engel.
Und er hat auch Ähnlichkeit mit Hjalmar. Das liegt vor allem an den Augen, die äußeren Augenwinkel sitzen viel tiefer als die inneren, was seinem Gesicht einen Anflug von Kummer gibt.
»Guten Tag!«, grüßt Hjalmar Lundbohm, aber dann kommt er durcheinander, denn er hätte fast »Guten Tag, Flisan« gesagt, aber sie ist doch nicht mehr seine Haushälterin, und vor Aufregung hat er doch glatt ihren Nachnamen vergessen.
Flisan sagt mit harter Stimme guten Tag, und der Junge macht einen Diener.
»Mein Junge«, rutscht es Hjalmar Lundbohm heraus. »Ich habe deine Mutter gekannt …«
Der Junge schaut Flisan unsicher an.
»Was meint der Onkel?«, fragt er.
»Der meint gar nichts«, faucht Flisan und starrt Lundbohm in die Augen. »Lundbohm ist alt und krank und sicher nicht mehr so umschwärmt wie früher, jetzt, da er kein Direktor mehr ist. Habe ich recht? Und dann will er plötzlich das haben, worum er sich nie gekümmert hat.«
Hjalmar Lundbohm bringt keine Antwort heraus. Er hält einen großen dicken Briefumschlag in der Hand und drückt ihn jetzt an seine Brust.
»Einfach so herkommen«, sagt Flisan voller Verachtung. »Nach all den Jahren!«
Sie holt Luft. Jetzt wird sie es ihm endlich geben! Die Beine bleiben ganz gerade unter ihr. Nichts in ihr will einen Knicks machen.
»Wissen Sie«, sagt sie. »Ich habe an Sie gedacht. Gerade heute! Der Pastor hat über den Moloch gepredigt. Den Götzen, dem man Kinder opferte, um Reichtum zu erlangen. Und ich saß in der Bank und dachte nach. Dass man doch weiß, was das für Leute sind. Solche wie Sie!
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