Denn die Gier wird euch verderben - Thriller
wen hielt sie sich eigentlich? Wie konnte sie es wagen?
Sein Kanzleivorsteher kam herein und wollte den Gerichtsplan für die nächste Woche. Als sie den durchgegangen waren, war eine halbe Stunde vergangen, und seine Wut war verflogen. Er wischte sich mit einem Stofftaschentuch die Stirn und setzte sich auf die Schreibtischkante.
Jetzt wünschte er fast, wieder wütend zu sein. Mit der Stille kam die Selbsterkenntnis und hielt ihm einen Spiegel vor. Das, was er sah, gefiel ihm gar nicht.
Er hätte den Fall nicht von Post übertragen dürfen. Er hatte nicht richtig nachgedacht. Hatte nur gesagt: »Ja, ja, von mir aus.« Und jetzt saß er in der Klemme. Er konnte die Sache nicht mehr rückgängig machen. Aber er wollte nicht, dass sie wütend auf ihn war.
»Das war falsch«, sagte er laut zu sich selbst.
Er hielt sich die Nase zu und atmete durch den Mund aus.
»Und man braucht das nicht mal unter einer Scheiß-Genderperspektive zu betrachten.«
U M ZEHN U HR ABENDS am ersten Tag in Kiruna kommt Bergwerksdirektor Hjalmar Lundbohm zu Besuch.
»Ich hab noch Licht gesehen«, sagt er zu seiner Entschuldigung, und Flisan knickst und bittet ihn herein.
Sie und Elina haben sich mit dem letzten Rest Wasser aus dem Kessel gewaschen. Flisan hat Pökelspeck mit himmlischer Zwiebelsoße gebraten, für die Männer, die für die Kammer ein Bücherregal gezimmert haben. Elina ist schon ganz schwindlig von allem, was passiert ist. Es scheint eine Woche her zu sein, dass sie aus dem Zug gestiegen ist und sich so geschämt hat, weil Hjalmar Lundbohm nach einem knappen Abschiedsgruß einfach verschwunden ist.
Jetzt wünscht sie, sie hätte eine schönere Bluse angezogen. Aber sie konnte ja nicht damit rechnen, dass er auftauchen würde.
Herr Lundbohm kommt natürlich nicht ohne Grund. Er möchte mitteilen, welche Gäste er für den nächsten Abend zum Essen eingeladen hat. Flisan sieht überrascht aus. Nur bei größeren Gesellschaften wird sie sonst vorgewarnt, oft nicht einmal dann. Sie macht abermals einen Knicks und lugt verstohlen zu Elina hinüber.
»Fräulein Pettersson ist vielleicht an eine eigene Wohnung gewöhnt?«, fragt Bergwerksdirektor Lundbohm. »Aber hier in Kiruna herrscht Wohnungsnot, und da muss man sich zusammentun.«
Gott behüte mich davor, je wieder allein wohnen zu müssen, denkt Elina, laut aber sagt sie: »Das geht sicher sehr gut. Möchten Sie einen Kaffee, Herr Direktor?«
Das möchte der Direktor, falls sie ihm nichts Stärkeres anbieten können.
Und dann trinken sie Kaffee aus Holzbechern. Das scheint ihm nichts auszumachen, bemerkt Elina. Er ist so einer, der heute Blutsuppe mit Rentierfleisch aus der Holzschüssel isst und morgen mit dem Malerprinzen Eugen diniert.
Er bewundert die Flickenteppiche und findet alles sehr gemütlich. Er sitzt auf der Küchenbank, und Flisan sagt, dass sie am nächsten Tag anstreichen und Tapeten kleben werden. Das Bücherregal soll blau gestrichen werden, teilt sie mit.
»Was soll in das Bücherregal?«
»Bücher natürlich.«
Sie zeigt auf den Koffer.
»Die neue Lehrerin hat eine ganze Bibliothek.«
Herr Lundbohm schaut die neue Lehrerin lange an. Dann bittet er höflich, die Bibliothek ansehen zu dürfen.
Elina zittern die Hände, aber welche Wahl hat sie schon?
Und zugleich will sie zeigen, wer sie ist.
Als Flisan die vielen Bücher sieht, muss sie sich setzen.
»Das ist doch der pure Wahnsinn«, ruft sie. »Hast du die alle gelesen?«
»Ja«, antwortet Elina mit einem Hauch von Trotz in der Stimme.
»Und einige sogar mehrmals!«
Hjalmar Lundbohm zieht einen Kneifer aus der Tasche.
»Mal sehen«, befiehlt er energisch, und Flisan nimmt ein Buch nach dem anderen aus dem Koffer. Sie sind sorgfältig in Leinentücher und Seidenpapier gewickelt. Flisan wickelt das Seidenpapier vorsichtig ab und stapelt es aufeinander. Hjalmar liest die Titel laut vor.
Elina sitzt still dabei und lässt alles geschehen. So viele Gefühle wirbeln durch ihr Inneres. So viele Stimmen.
Ich bin nur müde, denkt sie, als die Tränen ihr plötzlich wie ein Kloß im Hals sitzen.
Stimmen. Die Frauen zu Hause im Dorf, die zu ihrer Mutter sagen, dass die Kleine vom vielen Lesen noch den Verstand verlieren werde. Dass es schädlich sei. Die sagen, sie sei ein Faulpelz, wenn sie sich über die Schularbeiten beugt. Die ihr die Feder aus der Hand reißen und fauchen, sie solle ihrer Mutter beim Abwasch helfen. Und ihre Mutter, die ihr die Hand in den Rücken legt und sie
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