Denn mein ist deine Seele: Psychothriller (German Edition)
nicht unmoralisch von ihm, Virginias Recht auf seine Hinrichtung mit dem Grund anzufechten, dass dieser Staat keine Zuständigkeit besaß. »Schlupfloch«, schimpften die Leitartikler. »Reine Formalität«, beschwerten sich die Experten. Aber Barbara wusste als frühere Geschichtslehrerin, dass Staatsgrenzen mehr als willkürliche Linien auf der Karte waren, dass die Vereinigten Staaten wirklich vereinigte Staaten waren und dass Walters Verhandlung in West Virginia hätte stattfinden müssen, wenn Holly Tackett dort gestorben war. Das war keine Formalität. Die meisten Konservativen hielten den Grundsatz hoch, dass die einzelnen Staaten eigene Gesetze erlassen durften und sich die Bundesregierung weniger einmischen sollte. Wenn genau diese Konservativen Staatsgrenzen für unwichtig erklärten, weil sie jemanden töten wollten, war das Heuchelei.
Sie fing an, Walter zu schreiben. Anfangs begegnete er ihr mit Skepsis. Es hatten ihm auch schon andere Frauen geschrieben. »Verrückte«, erzählte er ihr später. »Die wollen eine Beziehung. Ich kann hier drinnen doch keine Beziehung eingehen. Wo waren diese Frauen, als ich mir nichts mehr als eine Freundin gewünscht habe?«
Sie fand das witzig, dachte, das zeuge sogar von Selbsterkenntnis. Im Laufe der Zeit entdeckte sie weitere Puzzle-teile aus Walters Leben. Die späte Schwangerschaft, das lieblose Zuhause, das ständig herablassende Verhalten seiner ganzen Umgebung. Sie schickte ihm einen Intelligenztest, den er weit über Durchschnitt bestand, aber er gab zu, in der Schule nie gut gewesen zu sein. Irgendwann sprachen sie auch über Sex. Walter sagte, seine erste sexuelle Erfahrung habe er mit einer jungen Frau aus dem Ort gemacht, die sich quasi für Tauschgeschäfte prostituierte; sie schlief mit Männern, die etwas für sie tun sollten. Er ging dann zu ihr nach Hause und half ihr bei irgendwas – brachte Gardinenstangen an oder verrückte schwere Möbel. Aber sie wickelte die Angelegenheit so geschäftsmäßig ab, dass Walter sie nicht so genießen konnte, wie er es erwartet hatte, für ihn zählte dieser Sex im Grunde nicht. »Auf gewisse Art und Weise war ich Jungfrau«, kommentierte er die Zeit, die er auf der Flucht verbrachte hatte. Barbara merkte, wie wirr sein Verständnis von Sex und Frauen war.
»Ich bin nicht mehr der gleiche Mensch«, sagte er. »Wenn ich hier rauskäme – keine Ahnung. Aber ich komme nicht hier raus, und das ist wohl richtig so. Trotzdem finde ich genau das absurd. Weil ich eingesperrt wurde, bin ich heute ein besserer Mensch. Ich bin sogar geheilt. Man musste mich einsperren, gar keine Frage. Aber wenn sie mich hinrichten, töten sie den falschen Walter. Den, den sie bestrafen wollen, gibt es nicht mehr.«
Barbara war anscheinend die Einzige, die das ebenso sah. Der Staat Virginia würde den falschen Walter hinrichten, er würde genauso morden, wie Walter es getan hatte. Dafür hatte er Millionen ausgegeben, weit mehr, als wenn er Walter direkt zu lebenslanger Haft verurteilt hätte.
Sie streckte sich auf ihrer Matte aus. Von einer der Matten aus dem Studio hatte sich Barbara eine Infektion eingehandelt, zumindest glaubte sie das, und seitdem brachte sie ihre eigene leuchtend magentafarbene Matte mit. Diesen Teil des Kurses, in dem sie ihren Geist leeren sollten, konnte sie nicht ausstehen. Mein Geist lässt sich nicht leeren, hätte sie am liebsten widersprochen.
Stattdessen legte sie sich auf den Rücken und zählte die Tage ab. 25. November. Nach Walters 1-2-3-Plan wollte er seine Bitte erst bei dem dritten Gespräch mit Eliza ansprechen, und Barbara wusste nicht, ob er das erste, abgebrochene Telefonat mitrechnete. Während die Hinrichtung näher rückte, durfte er zwar öfter telefonieren, trotzdem dachte Barbara, er solle einfach damit herausrücken, damit Eliza darüber brüten konnte.
»Ich kenne sie besser als du«, hatte Walter gesagt. Das machte sie rasend. Er schien zu glauben, er hätte zu dieser Frau eine engere Bindung als zu Barbara. Du kennst Eliza Benedict nicht , hätte sie ihm gern gesagt. Du kennst ein Mädchen, das es längst nicht mehr gibt. Und wie es aussieht, hast du vielleicht nicht einmal das gekannt. Barbara mochte Eliza Benedict schlicht nicht, und sie hätte alles dafür gegeben, wenn sie diese Frau nicht gebraucht hätten. Sie hatte Eliza schon auf den ersten Blick nicht ausstehen können, als sie mit diesem hässlichen Hund die Straße entlanggelaufen war. Schrecklich, diese … Gelassenheit.
Weitere Kostenlose Bücher