Denn mein ist deine Seele: Psychothriller (German Edition)
verschreckte Mäuschen wusste Barbara Bescheid. Hinter ihrer unfreundlichen Fassade war sie selbst eins gewesen. Morgens war sie zu ihrem Auto gehuscht, besorgt, es könnte nicht anspringen, war in die Schule gehuscht, um gelangweilten Siebt- und Achtklässlern Geschichte beizubringen, am Ende des Tages war sie schnell aus dem Viertel verschwunden und hatte beim abendlichen Kochen ängstlich auf Kalorien, Fett und Cholesterin geschielt. Hatte vor dem Fernseher Arbeiten benotet und war meist dabei eingeschlafen. Und das Tag für Tag für Tag.
Dann war sie im Krankenhaus zu sich gekommen, mit bandagiertem Gesicht. Zwölf Stunden hatte sie verloren, einen halben Tag. Schon bevor der Verband abgenommen wurde, hatte sie gewusst, dass die Flickarbeit – die Bezeichnung Operation verdiente sie nicht – verpfuscht war. Sie konnte spüren, wie uneben die Narbe, wie grob die Stiche waren. Man hatte sich nicht die Mühe gemacht, einen plastischen Chirurgen in den OP zu holen. Das hätte als Munition für eine weitere Klage gereicht, aber das Krankenhaus hatte bald nachgebessert, und das Ergebnis war nicht schlecht. Ihre Narbe glich einem Geisterlächeln, einem kleinen, fröhlichen Gesicht auf der Wange. »Halloween könnte ich als die beiden griechischen Theatermasken gleichzeitig gehen«, hatte sie einmal zu Walter gesagt.
Als Barbara desorientiert zu sich gekommen war, ohne den Schaden abschätzen zu können, war ihr klar geworden, dass sie keine Angst mehr hatte. Das war noch vor dem üppigen Vergleich gewesen, bevor sie überhaupt gewusst hatte, was genau geschehen war. Aber eines hatte sie gewusst: Sie hatte keine Angst mehr. Sie wäre beinahe gestorben. Aber sie lebte noch. Auf sie wartete eine Aufgabe.
Als Erstes machte sie sich daran, alles über den Jungen herauszufinden, der ihr das Gesicht aufgeschlitzt hatte, und seinen Weg durch die Institutionen zu verfolgen. Tuwan Jones war vierzehn, ein Jugendlicher, und damals war es noch schwerer, Jugendliche nach Erwachsenenstrafrecht zu verurteilen. Das störte Barbara nicht, obwohl sie glaubte, dass bei ihrem Angreifer keine Resozialisierung möglich war. Jemand, ein Elternteil oder ein Verwandter, hatte diesen Jungen vor langer Zeit getötet. Er wurde in die Hickey School geschickt, eine geschlossene Schule für jugendliche Straftäter, in der er sich schnell zum Ausbrecherkönig mauserte. Er türmte bei jeder Gelegenheit, nur um verwirrt durch die stille, ruhige Vorstadtumgebung zu laufen. Tuwan schaffte es zwar aus der Hickey School heraus, aber nicht aus dem Viertel. Er kam nie viel weiter als bis zur Harford Road, der nächsten Hauptstraße. Jedes Mal, wenn er entwischte, bekam Barbara einen Anruf, aus Höflichkeit und wahrscheinlich als Schutzmaßnahme vor weiteren Klagen. Dabei hatte Tuwan es nicht auf sie abgesehen. Er dachte nicht einmal mehr an sie. Mit sechzehn wurde er aus der Hickey School entlassen. Mit achtzehn hatte er es schließlich geschafft, jemanden zu töten, und landete im Hochsicherheitsgefängnis in Baltimore.
Andere hätten nach solchen Erfahrungen vielleicht beschlossen, ähnliche Tragödien zu verhindern und jungen Männern zu helfen, bevor sie gewalttätig wurden. Aber Barbara war schon an vorderster Front gewesen, und sie bezweifelte, dass sie andere Menschen ändern konnte. Stattdessen schoss sie sich auf das Thema Todesstrafe ein. Es war falsch, zu töten. Jemand hatte ihr das Leben nehmen wollen und war gescheitert. Die Chance weiterzuleben hatte sie zu einem besseren Menschen gemacht. Nicht unbedingt zu einem netteren, aber sie war selbstbewusster, energischer, sogar ein wenig selbstlos geworden. Vielleicht würden die Männer im Todestrakt auch bessere Menschen werden, wenn man sie nur nicht hinrichtete.
In Maryland gab es zwar eine Reihe von interessanten Häftlingen, aber die besten, deren Fälle es wirklich verdienten, neu aufgerollt zu werden, waren vergeben. Barbara wollte einen Häftling mehr oder minder für sich, sie wollte sich für jemanden einsetzen, den sonst niemand der Mühe wert fand. Sie suchte einen Mann, der als Monster galt, um die Welt davon zu überzeugen, er sei ein Mensch.
So hatte sie damals in den Neunzigern zu Walter gefunden, als seine Hinrichtung zum ersten Mal anstand. Sie konnte nicht glauben, wie blutrünstig die Leute waren, wie sehr sie sich darauf freuten, ihn sterben zu sehen. Der Mann, den sie auf Zeitungsfotos und Gerichtszeichnungen sah, wirkte auf sie freundlich und resigniert. Und es war
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