Denn niemand hört dein Rufen
Lächeln war so schnell wieder verschwunden, wie es erschienen war. »Emily, was ich Ihnen jetzt sage, bleibt unter uns, einverstanden?«
»Ich denke schon. Hängt davon ab, was Sie mir zu sagen haben.«
»Mein Mandant besteht darauf, dass er unschuldig ist. Er weiß nichts davon, dass ich in diesem Augenblick mit Ihnen spreche, und wäre ohne Zweifel wütend, würde er davon erfahren. Aber die Frage, die ich Ihnen stellen wollte, ist folgende: Ist ein Schuldeingeständnis für schweren Totschlag mit einem Strafmaß von zwanzig Jahren immer noch aktuell?«
Kurz sah sie Gregg Aldrich vor sich, wie er zusammengesunken und bleich auf seinem Stuhl saß, doch Emily schüttelte den Kopf. »Nein, Richard«, sagte sie mit Nachdruck. »Zum jetzigen Zeitpunkt geht das nicht mehr, aus verschiedenen Gründen. Um nur einen zu nennen: Wenn Aldrich das Angebot vor Monaten angenommen hätte, als wir es gemacht haben, hätte ich zum Beispiel Natalies Mutter nicht der ganzen Belastung aussetzen müssen, hier vor Gericht in den Zeugenstand zu treten.« Moore nickte langsam, als ob er diese Antwort erwartet hätte.
Emily merkte, wie ärgerlich sie geklungen hatte, und sagte: »Warten Sie, ich würde mir gern selbst einen Kaffee holen. Der Automat ist gleich am Ende des Flurs. Ich bin sofort wieder da.«
Als sie zurückkehrte, achtete sie sorgfältig darauf, keine Gefühle in ihrer Stimme durchklingen zu lassen. »Richard, Sie wissen, wie viel Arbeit es verlangt, einen solchen Prozess vorzubereiten. Ich habe jetzt monatelang rund um die Uhr daran gesessen, und jetzt habe ich einen Stapel von anderen Fällen, die alle darauf warten, von mir bearbeitet zu werden. Nachdem wir jetzt schon so weit gekommen sind, möchte ich, dass die Geschworenen in diesem Fall entscheiden.«
Richard Moore erhob sich. »Nun gut, ich verstehe das. Und ich möchte noch einmal betonen, dass Gregg Aldrich mich nicht zu diesem Besuch ermächtigt hat. Er beteuert seine Unschuld, und er möchte, dass die Geschworenen ihn freisprechen. Freisprechen? Nicht nur das, er möchte von der Anklage entlastet werden.«
Entlastet! Er muss verrückt sein, dachte Emily. Er sollte lieber hoffen, dass wenigstens einer der Geschworenen ihm glaubt und somit keine Einstimmigkeit erreicht wird.
Das würde ihm wenigstens ein paar weitere Monate in Freiheit verschaffen, bevor ein zweiter Prozess in Gang käme. Ohne jede Spur von Sarkasmus sagte sie: »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Gregg Aldrich von diesen Geschworenen entlastet wird, genauso wenig wie von irgendwelchen anderen.«
»Damit könnten Sie Recht haben«, antwortete Moore niedergeschlagen. An der Tür drehte er sich noch einmal um. »Ich gebe zu, dass Easton sich im Zeugenstand besser geschlagen hat als erwartet, Emily. Und ich gestehe Ihnen gern zu, dass Sie Ihre Sache hervorragend gemacht haben.«
Richard Moore war nicht dafür bekannt, Komplimente zu verteilen. Aufrichtig geschmeichelt, dankte Emily ihm.
»Und Emily, irgendwie bin ich froh, dass es bald vorüber sein wird. Die ganze Sache hat mich diesmal doch ziemlich mitgenommen.«
Er ging, bevor sie darauf etwas erwidern konnte.
23
A m Morgen des dritten Oktober stand Gregg Aldrich um fünf Uhr auf. Weil er an diesem Tag in den Zeugenstand gerufen werden sollte, war er unvernünftig früh zu Bett gegangen, und das hatte sich als Fehler erwiesen. Er hatte nur etwa eine Stunde geschlafen, bis elf Uhr abends, die folgenden sechs Stunden hatte er in einem unruhigen Dämmerschlaf zugebracht, aus dem er ständig aufwachte.
Ich muss einen klaren Kopf bekommen, dachte er. Ich werde eine Runde im Park laufen. Ich kann nicht vor Gericht auftreten, wenn ich mich so mitgenommen und erledigt fühle. Er zog die Jalousien hoch und schloss das Fenster. Die Aussicht ging über die Straße auf das Gebäude gegenüber. An der Park Avenue hat man eigentlich nirgendwo eine richtige Aussicht, überlegte er. An der Fifth Avenue blickt man auf den Central Park. An der East End Avenue kann man über den Fluss sehen. An der Park Avenue dagegen blickt man nur auf ein Gebäude mit lauter Menschen, die ein ähnliches Leben führen wie man selbst und sich die horrenden Preise leisten können.
In Jersey City hatten wir eine bessere Aussicht, dachte er mit einem Schuss Selbstironie. Von der alten Wohnung aus konnte man die Freiheitsstatue sehen. Aber als Mom gestorben ist, wollte ich so schnell wie möglich von dort weg. Mom hat mit eisernem Willen durchgehalten, damit
sie noch
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