Denn niemand hört dein Rufen
miterleben konnte, wie ich meinen Abschluss an der St. John’s University machte. Ich bin nur froh, dass sie jetzt nicht im Gerichtssaal sitzt, dachte er und wandte sich vom Fenster ab.
Draußen war es kühl, und er suchte sich einen leichten Trainingsanzug heraus. Während Gregg sich anzog, wurde ihm bewusst, dass er in letzter Zeit oft an seine Mutter denken musste. Er erinnerte sich, wie er nach ihrem Tod ein paar befreundete Nachbarinnen wie Loretta Lewis einlud, in ihre Wohnung im vierten Stock zu kommen und sich von der Einrichtung die Sachen auszusuchen, die sie gebrauchen konnten.
Warum gingen ihm diese Dinge durch den Kopf? Weil Richard Moore Mrs Lewis als Leumundszeugin in den Zeugenstand rufen wird. Sie wird aussagen, was für ein großartiger Sohn ich war und wie überaus hilfsbereit gegenüber allen alten Leuten im Haus. Er verspricht sich davon, dass die Geschworenen möglicherweise ein wenig Sympathie für mich empfinden werden. Der Vater gestorben, als ich neun war, die Mutter jahrelang gegen den Krebs kämpfend, während ich mich durchs College ackerte … Moore wird dafür sorgen, dass sie zu Tränen gerührt sind. Aber was hat das mit Natalies Tod zu tun? Moore meint, es könnten dadurch Zweifel geweckt werden, dass ich imstande gewesen sein soll, Natalie zu töten. Wer weiß?
Um zwanzig nach fünf, nachdem er noch rasch eine Tasse löslichen Kaffee hinuntergekippt hatte, öffnete Gregg vorsichtig die Tür zu Katies Schlafzimmer und warf einen Blick auf ihr Bett. Sie schlief fest, unter der Decke eingerollt, so dass nur ihre langen blonden Haare zu sehen waren. Genau wie er schlief sie am liebsten in einem kühlen Raum.
Als sie jedoch gestern Abend zu Bett gegangen war, hatte er sie weinen gehört und war zu ihr geeilt. »Daddy, warum erzählt dieser Jimmy Easton diese Lügengeschichten?« , hatte sie geschluchzt.
Er hatte sich auf ihr Bett gesetzt und ihr die Hand besänftigend auf die Schulter gelegt. »Weißt du, Katie, er lügt einfach, weil er eine ganze Menge Jahre weniger im Gefängnis sitzen muss, wenn er diese Geschichte erzählt.«
»Aber, Daddy, die Geschworenen glauben ihm. Ich habe gesehen, dass sie ihm glauben.«
»Glaubst du ihm denn?«
»Nein, natürlich nicht.« Sie hatte sich kerzengerade im Bett aufgesetzt. »Wie kannst du mich das überhaupt fragen?«
Sie hatte sehr betroffen reagiert. Und ich war auch betroffen, dass ich ihr diese Frage gestellt hatte, dachte Gregg. Aber hätte ich nur eine Spur von Zweifel in ihrer Miene entdeckt, hätte mir das den Rest gegeben.
Es hatte lange gedauert, bis Katie eingeschlafen war. Er hoffte, dass sie wenigstens bis sieben Uhr schlafen würde. Sie mussten um zwanzig vor acht zum Gericht aufbrechen.
Er verließ die Wohnung und das Gebäude und lief die zwei Häuserblocks bis zum Central Park im Joggingtempo hinunter. Als er den Park erreichte, schlug er den Weg ein, der in nördliche Richtung führte. Doch sosehr er auch versuchte, sich auf den anstehenden Auftritt im Zeugenstand zu konzentrieren, seine Gedanken schweiften immer wieder in die Vergangenheit ab.
Mein erster Job im Showbusiness war Kartenabreißer im Barrymore-Theater, erinnerte er sich, aber ich war klug genug, in Sardi’s und den anderen einschlägigen Lokalen
herumzuhängen, bis mir eines Tages Doc Yates einen Job in seiner Theateragentur angeboten hat. Da hatte ich auch schon Kathleen kennengelernt.
Kathleen hatte eine kleine Rolle in einer Neuauflage von The Sound of Music im Barrymore. Es war Liebe auf den ersten Blick, bei ihr wie bei mir. Wir haben in derselben Woche geheiratet, in der ich den Job bei Doc Yates angenommen habe. Da waren wir beide vierundzwanzig.
Tief in Gedanken versunken, lief Gregg in nördliche Richtung, achtete weder auf den kalten Wind noch auf die anderen Frühjogger. Acht Jahre waren uns gegönnt, dachte er. Bei mir ging es schnell nach oben in der Agentur. Doc hat mich vom ersten Tag an als seinen Nachfolger aufgebaut. Kathleen arbeitete ziemlich regelmäßig, doch in dem Augenblick, in dem sie schwanger wurde, sagte sie zufrieden: »Gregg, wenn unser Baby da ist, werde ich zu Hause bleiben. Du wirst dann der Einzige in der Familie sein, der die Brötchen verdient.«
Gregg musste unwillkürlich lächeln.
Diese Jahre waren so voller Zärtlichkeit, so erfüllt gewesen. Und dann dieses Ende. Bei Kathleen wurde Brustkrebs diagnostiziert, ihre Mutter war bereits daran gestorben. Und dass dann alles so schnell gegangen war, dass er
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