Denn rein soll deine Seele sein
nicht, er war einfach zu müde. Nacken und Rücken waren steif, die Schultern taten ihm weh, der Kopf dröhnte. Er griff nach der Aspirinpackung im Schreibtischfach, aber sie war leer. Verärgert warf er sie in den Papierkorb.
Er verschränkte die Hände hinter dem Kopf, legte die Füße auf die Schreibtischplatte und richtete den Blick zur Decke, als erhoffe er sich von dort eine Inspiration. Als sich dort nichts tat, beschloß er, noch einmal einen neuen Anlauf zu nehmen.
Hunderttausende von Bytes an Daten hatten ihm nicht weitergeholfen. Zunächst hatte er seine ursprünglichen Verdächtigen und den medizinischen Befund von allen Seiten durchleuchten lassen. Dann hatte er die Namen bekannter Antisemiten vor Ort in den Computer eingegeben, die Namen auf Bewährung entlassener Sittlichkeitsverbrecher, die Namen der Jeschiwaschüler, die Rina unterrichtet hatte, die ihrer Kommilitonen vom College, hatte weitere Angaben in den Datenbrei gerührt wie ein Küchenchef Zutaten in ein Gericht, das doch nicht mehr zu retten ist. Dem Täter war er um keinen Schritt näher gekommen. Es lief immer wieder auf dieselben Leute hinaus. Er griff sich einen Bleistift und notierte den ersten Namen.
Shlomo Stein.
Ein übler Typ, der seinem früheren Image weit besser gerecht wurde als dem des bekehrten Sünders. Aber was er ausgesagt hatte, entsprach der Wahrheit. Und - was wichtiger war - an dem Abend, als Mrs. Adler überfallen worden war, hatte er mit dreißig anderen an einer Debatte über talmudische Fragen teilgenommen. Decker strich ihn von seiner Liste.
Shraga Mendelsohn.
Ruhiger als Stein, aber auch ein komischer Kauz. Machte beim Sprechen kaum den Mund auf, lächelte an den falschen Stellen, vermied Augenkontakt. Hätte man Stein etwas anhängen können, wäre Mendelsohn der ideale Komplize gewesen. Für den bewußten Abend hatte er dasselbe Alibi wie Stein. Streichen wir Mendelsohn.
Moshe Feldman.
Decker setzte ein dickes Fragezeichen hinter den Namen. Matt Hawthorne.
Sie hatten sein Alibi für die Mordnacht geprüft. Sein Freund hatte bestätigt, daß sie zusammen im Kino gewesen waren. Außerdem erinnerte sich die Verkäuferin vom Süßwarenstand an ihn, weil Hawthorne einen halbherzigen Versuch gemacht hatte, mit ihr zu flirten. Der Film war um 21.38 Uhr aus gewesen. Rein theoretisch war es denkbar, daß Hawthorne direkt zur Jeschiwa gefahren war, festgestellt hatte, daß Florence tot war, und versucht hatte, in die Mikwe einzudringen. Aber viel Sinn gab dieses Szenario nicht. Er hätte schon sehr schnell und zielstrebig zu Werke gehen müssen, um den Zeitplan einzuhalten. Und woher sollte er wissen, daß Florence tot war?
Für den Abend, an dem Mrs. Adler vergewaltigt worden war, hatte Hawthorne kein Alibi. Er behauptete, er habe allein zu Hause gesessen und gelesen. Die vollgestopften Bücherregale in seiner Wohnung waren bestimmt mehr als nur Kulisse. Als Englischlehrer las Hawthorne vermutlich wirklich viel. Und ausgesprochen verdächtig wirkte er ja auch nicht. Die Erregung bei ihrem letzten Gespräch war wohl mehr der Nervosität als schlechtem Gewissen zuzuschreiben.
Steve Gilbert.
Als Kandidat entschieden am interessantesten. Ungerührt vom Besuch der Kriminalpolizei, distanziert, fast leicht amüsiert. Nicht der versponnene Physiker, den Decker sich vorgestellt hatte. Und er war zwei Jahre bei der Army gewesen, darunter zehn Monate in Vietnam, auf einer Schreibstube. Warum hatten sie ihn nicht zur kämpfenden Truppe geschickt? Vielleicht war bekannt, daß er einen Zacken hatte. Vielleicht war er aggressiv. Der Kerl, der auf Decker geschossen hatte, war ein ausgesprochen guter Schütze gewesen.
Gilbert leitete jeden Donnerstag bis zehn den Computerclub auf dem Gelände der Jeschiwa. Der Überfall auf Mrs. Adler war an einem Donnerstag gewesen. Der Abend, an dem jemand auf Decker geschossen hatte, war ein Donnerstag gewesen. Beide Zwischenfälle hatten sich gegen zehn ereignet. Beim erstenmal hatte Rina um 22.08 Uhr das Revier verständigt, beim zweitenmal hatte sie sich um Viertel nach zehn bei Decker gemeldet. Damit wäre Gilbert genügend Zeit geblieben, seine Jungs nach Hause zu schicken und die Tat zu begehen.
Nur die Mordnacht paßte nicht ins Schema, da hatte Rina um Viertel vor elf angerufen, außerdem war es ein Mittwoch gewesen, und seit fünf Jahren war Gilbert am Mittwoch-, Freitag- und Sonntagabend zum Essen bei der Familie seiner Verlobten, die dreißig Meilen weit weg wohnte. Meist
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