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Denn vergeben wird dir nie

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Titel: Denn vergeben wird dir nie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Higgins Clark
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dagegen habe die kräftigen Züge meines
Vaters geerbt, die einem Mann besser stehen als einer
Frau. Niemand würde auf den Gedanken kommen, mich
seinen Christbaumstern zu nennen.
    Verlockende Düfte stiegen vom Speisesaal auf, und ich
stellte fest, dass ich Hunger hatte. Ich hatte einen frühen
Flug aus Atlanta erwischt und musste, wie üblich,
geraume Zeit vor dem Abflug am Flughafen sein. Das im
Flugzeug servierte »Frühstück« hatte aus einer Tasse
schlechten Kaffees bestanden.
    Als ich in den Speisesaal hinunterging, war es halb zwei,
und viele Gäste waren schon wieder gegangen. Ich bekam
sofort einen freien Tisch in einer kleinen Nische beim
offenen Kaminfeuer. Ich hatte nicht bemerkt, wie
durchgefroren ich war, bis ich die wohltuende Wärme an
    Händen und Füßen verspürte.
»Kann ich Ihnen etwas zu trinken bringen?«, fragte die
Bedienung, eine lächelnde grauhaarige Frau, auf deren
Namensschild »Liz« stand.
    Warum nicht?, dachte ich und bestellte ein Glas
Rotwein.
Als sie wiederkam, sagte ich, ich hätte mich für die
Zwiebelsuppe entschieden, und sie meinte, das sei eine
gute Wahl.
»Arbeiten Sie schon lange hier, Liz?«, fragte ich.
»Fünfundzwanzig Jahre. Ich kann es selbst kaum
glauben.«
Möglicherweise hatte sie uns vor Jahren schon bedient.
»Gibt es immer noch die Sandwiches mit Erdnussbutter
und Marmelade?«
»Ja, natürlich. Haben Sie die früher immer bestellt?«
»Ja.« Ich bereute sofort, sie darauf angesprochen zu
haben. Das Letzte, was ich mir wünschte, war, von den
Einheimischen als »die Schwester des Mädchens, das vor
dreiundzwanzig Jahren ermordet worden ist« identifiziert
zu werden.
Aber Liz war es offensichtlich gewohnt, von Durchrei
senden darauf angesprochen zu werden, dass sie vor
Jahren schon in diesem Gasthaus gegessen hätten, und sie
verließ den Tisch ohne weiteren Kommentar.
Ich nippte an meinem Wein und erinnerte mich nach und
nach an bestimmte Anlässe, an denen wir als Familie hier
gewesen waren, zu der Zeit, als wir noch eine Familie
waren. Für gewöhnlich kehrten wir an Geburtstagen hier
ein, manchmal auch auf dem Rückweg von einem
Ausflug. Der letzte Anlass war, glaube ich, der Besuch
meiner Großmutter gewesen, nachdem sie schon fast ein
Jahr in Florida lebte. Ich erinnere mich noch, dass mein
Vater sie am Flughafen abholte und wir hier verabredet
waren. Wir hatten eine Torte für sie besorgt. Die rosa
Inschrift auf der weißen Glasur lautete: »Willkommen
daheim, Grandma.«
Sie hatte angefangen zu weinen. Glückliche Tränen. Die
letzten glücklichen Tränen, die in unserer Familie
vergossen wurden. Und dieser Gedanke brachte mich
wieder auf die Tränen, die am Tag von Andreas
Beerdigung vergossen wurden, und auf den schrecklichen
öffentlichen Streit zwischen meinen Eltern.

9
    NACH DER BEERDIGUNG waren wir alle nach Hause
gegangen. Die Frauen aus der Nachbarschaft hatten einen
Imbiss vorbereitet, und eine Menge Leute waren
gekommen: unsere ehemaligen Nachbarn aus Irvington,
die neuen Freundinnen meiner Mutter von der Kirchen
gemeinde, die Mitglieder ihres Bridge-Clubs und die
Kolleginnen, die mit ihr als freiwillige Helferinnen am
Krankenhaus arbeiteten. Viele langjährige Freunde und
Kollegen meines Vaters waren ebenfalls gekommen,
darunter einige in Uniform, die im Dienst waren und nur
auf einen Sprung vorbeischauen konnten, um ihre Anteil
nahme zu zeigen.
    Die fünf Mädchen, die Andreas spezielle Freundinnen
gewesen waren, standen mit verweinten Augen in einer
Ecke zusammen. Besonders Joan, bei der Andrea am
letzten Abend Hausaufgaben gemacht hatte, war voll
kommen aufgelöst und wurde von den vier anderen
getröstet.
    Ich fühlte mich von all dem ausgeschlossen. Meine
Mutter sah sehr traurig aus in ihrem schwarzen Kostüm.
Sie saß im Wohnzimmer auf dem Sofa, von allen Seiten
von Freundinnen umgeben, die ihre Hand hielten oder ihr
eine Tasse Tee reichten. »Es wird dir gut tun, Genine.
Deine Hände sind so kalt.« Sie war gefasst, auch wenn ihr
immer wieder Tränen in die Augen stiegen, und ich hörte
sie mehrfach sagen: »Ich kann es einfach nicht glauben,
dass sie nicht mehr da ist.«
    Sie und mein Vater hatten einander am Grab
festgehalten, aber jetzt saßen sie in verschiedenen
Zimmern, sie im Wohnzimmer, er in der abgetrennten
hinteren Veranda, die er zu einer Art persönlichem Refu
gium umgewandelt hatte. Meine Großmutter saß in der
Küche mit einigen ihrer alten Freundinnen aus

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