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Denn vergeben wird dir nie

Denn vergeben wird dir nie

Titel: Denn vergeben wird dir nie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Higgins Clark
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sondern auch klug und tüchtig, und stieg daher rasch zu
einer Art Krisenmanagerin auf. Das hatte wiederum zur
Folge, dass wir etwa alle achtzehn Monate in eine andere
Stadt mit einem anderen Hotel zogen.
    Leider gelang es ihr auch, ebenso erfolgreich vor jeder
mann – außer vor mir – zu verbergen, dass sie Alko
holikerin geworden war. Sie trank regelmäßig jeden Tag,
sobald sie von der Arbeit kam. Jahrelang gelang es ihr,
genug Kontrolle über sich zu behalten, um ihren Job zu
machen, nur gelegentlich täuschte sie »Erkältungen« vor,
wenn sie mehrere Tage benötigte, um wieder nüchtern zu
werden.
    Das Trinken machte sie zuweilen schweigsam und
trübsinnig. Dann wieder wurde sie redselig, und an
solchen Tagen wurde mir klar, wie leidenschaftlich sie
meinen Vater geliebt haben musste.
    »Ellie, von dem Augenblick an, als ich ihn zum ersten
Mal sah, war ich verrückt nach ihm. Hab ich dir schon
erzählt, wie wir uns kennen gelernt haben?«
Immer wieder und wieder, Mutter.
    »Ich war neunzehn und arbeitete seit einem halben Jahr
in meinem ersten Job als Sekretärin. Ich hatte mir ein Auto
gekauft, eine orangefarbene Kiste auf Rädern. Einmal
wollte ich auf der Schnellstraße ausprobieren, was der
Karren an Geschwindigkeit hergibt. Plötzlich hörte ich
eine Sirene und sah im Rückspiegel die roten Lichter
blitzen, und dann befahl mir eine Stimme aus dem
Lautsprecher, rechts ranzufahren. Dein Vater verpasste
mir einen Strafzettel und hielt mir eine gehörige
Standpauke. Aber als er bei meinem Gerichtstermin
auftauchte, sagte er mir, er würde mir gerne ein paar
Fahrstunden geben.«
    Bei einem anderen Mal klagte sie: »In so vielen Dingen
war er einfach furchtbar. Er hat das College absolviert, er
sieht gut aus und hat außerdem noch Köpfchen. Aber
trotzdem fühlte er sich nur wohl mit seinen alten Freunden
und wollte nicht, dass sich irgendetwas ändert. Deshalb
wollte er auch nicht nach Oldham ziehen. Aber das größte
Problem war nicht, wo wir wohnen sollten. Das Problem
war, dass er einfach zu streng mit Andrea war. Selbst
wenn wir in Irvington geblieben wären, hätte sie sich
heimlich verabreden müssen.«
    Diese Erinnerungsorgien endeten fast immer mit dem
Satz: »Wenn wir nur gewusst hätten, wo wir sie suchen
sollten, als sie nicht nach Hause kam.« Was natürlich
bedeutete: Wenn ich ihnen nur von dem Versteck erzählt
hätte.
    Die dritte Klasse in Florida. Die vierte und fünfte in
Louisiana. Die sechste in Colorado. Die siebte in
Kalifornien. Die achte in New Mexico.
    An jedem Monatsersten kam zuverlässig ein Scheck
meines Vaters für meinen Unterhalt, aber ihn selbst sah
ich nur wenige Male in den ersten Jahren, und dann
überhaupt nicht mehr. Andrea, sein Goldkind, war tot.
Zwischen ihm und meiner Mutter war nichts mehr
geblieben außer bitterem Zurückblicken und eingefrorener
Liebe, und was er für mich empfand, war nicht genug, um
ihn meine Nähe suchen zu lassen. Jedes Zusammensein
mit mir barg die Gefahr, dass seine nur mühsam vernarbte
Wunde wieder aufbrach. Wenn ich ihm nur von dem
Versteck erzählt hätte.
    Als ich älter wurde, trat an die Stelle der Verehrung, die
ich für meinen Vater empfunden hatte, ein abgrundtiefer
Groll. Wie wäre es, wenn du dich selbst einmal fragen
würdest: Wenn ich doch bloß mit Ellie geredet hätte, statt
sie ins Bett zu schicken? Stellst du dir jemals diese Frage,
Daddy?
    Zum Glück waren wir, als ich aufs College gehen sollte,
lange genug in Kalifornien, um dort unseren ersten
Wohnsitz anzumelden. So konnte ich an die University of
California in Los Angeles gehen, um Journalistik zu
studieren.
    Ein halbes Jahr, nachdem ich mein Master-Diplom
erhalten hatte, starb meine Mutter an Leberversagen, und
weil ich noch einmal an einem neuen Ort beginnen wollte,
bewarb ich mich mit Erfolg für den Job in Atlanta.
    Rob Westerfield hatte in jener Novembernacht vor
dreiundzwanzig Jahren mehr getan, als meine Schwester
umzubringen. Während ich in dem Gasthaus saß und Liz
dabei zuschaute, wie sie den Teller mit der dampfenden
Zwiebelsuppe servierte, begann ich mich zu fragen, was
wohl aus unserem Leben geworden wäre, wenn Andrea
noch am Leben wäre.
    Meine Mutter und mein Vater wären immer noch
zusammen, sie würden immer noch hier wohnen. Meine
Mutter hatte große Pläne, wie sie das Haus weiter
herrichten wollte, und mein Vater hätte sich mit der Zeit
gewiss eingelebt. Als ich durch die Stadt

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