Denn vergeben wird dir nie
Irvington,
die mit Erinnerungen an glücklichere Zeiten in ihrem
Leben die trübe Stimmung zu bekämpfen suchten.
Ich lief zwischen den Leuten umher, und obwohl mich
manche ansprachen und mir sagten, was für ein tapferes
kleines Mädchen ich sei, fühlte ich mich einsam und
verlassen. Ich hatte Sehnsucht nach Andrea. Ich sehnte
mich danach, hinauf in das Zimmer meiner Schwester zu
gehen und mich auf ihrem Bett an sie zu kuscheln,
während sie am Telefon endlos mit ihren Freundinnen
oder mit Rob Westerfield schwatzte.
Bevor sie ihn anrief, hatte sie immer gesagt: »Kann ich
dir auch vertrauen, Ellie?«
Natürlich konnte sie das. Er rief sie fast nie zu Hause an,
weil man ihr jeden weiteren Kontakt mit ihm verboten
hatte, und sie, selbst wenn sie oben in ihrem Zimmer das
Gespräch annahm, immer befürchten mussten, dass im
Erdgeschoss meine Mutter oder mein Vater den Hörer
aufnehmen und seine Stimme hören würde.
Meine Mutter oder mein Vater? Oder ging es nur um
meinen Vater? Hätte sich meine Mutter auch darüber
aufgeregt? Immerhin war Rob ein Westerfield, und beide
Damen Westerfield, senior und junior, besuchten
gelegentlich die Versammlungen des Women’s Club, in
dem meine Mutter Mitglied war.
Um zwölf Uhr waren wir von der Beerdigung gekom
men. Um zwei begannen einige Leute Sätze fallen zu
lassen wie: »Nach allem, was ihr durchgemacht habt,
braucht ihr jetzt ein bisschen Ruhe.«
Das sollte wohl heißen, dass sie jetzt aufbrechen wollten,
nachdem sie den Hinterbliebenen ihr Mitgefühl ausge
drückt und aufrichtig mitgetrauert hatten. Dennoch
zögerten manche, unser Haus zu verlassen, weil sie
gleichzeitig begierig darauf waren, dabei zu sein, falls
irgendetwas Neues über die Suche nach dem Mörder von
Andrea bekannt würde.
In der Zwischenzeit hatten alle von Paulie Stroebels
Ausbruch in der Schule gehört, und sie wussten, dass
Andrea in Rob Westerfields Auto gesessen hatte, als er
letzten Monat auf der Schnellstraße wegen zu schnellen
Fahrens angehalten worden war.
Paulie Stroebel. Wer hätte gedacht, dass sich dieser
stille, introvertierte Junge in ein Mädchen wie Andrea
verlieben würde oder dass sie bereit gewesen wäre, mit
ihm auf die Thanksgiving-Fete zu gehen?
Rob Westerfield. Er hatte ein Jahr am College hinter
sich, und er war mit Sicherheit kein Dummkopf, so viel
konnte man auf Anhieb sehen. Aber es ging das Gerücht
um, dass man ihn dort wieder loswerden wollte. Offenbar
hatte er das gesamte erste Jahr vertrödelt. Er war neunzehn
Jahre alt, als er auf meine Schwester aufmerksam wurde.
Warum in aller Welt hatte er sich mit Andrea abgegeben,
die gerade einmal die zweite Klasse der Highschool
besuchte?
»Soll er nicht auch in die Sache mit dem Überfall auf
seine Großmutter verwickelt gewesen sein?«
Gerade hatte ich diese Bemerkung mitbekommen, als es
klingelte. Mrs. Storey vom Bridge-Club, die eben aufbre
chen wollte, öffnete die Haustür. Unter dem Vordach
stand Mrs. Dorothy Westerfield, Robs Großmutter und die
Besitzerin des Anwesens mit der Garage, in der Andrea
den Tod erlitten hatte.
Sie war eine gut aussehende, beeindruckende Frau mit
breiten Schultern und vollem Busen. Sie hielt sich
kerzengerade, was sie größer erscheinen ließ, als sie war.
Ihre grauen Haare, von Natur gewellt, hatte sie straff
zurückgebürstet. Mit ihren gut siebzig Jahren hatte sie
immer noch dunkle Augenbrauen, welche die Aufmerk
samkeit auf den intelligenten Ausdruck der hellbraunen
Augen lenkten. Mit den allzu kräftigen Konturen ihres
Unterkiefers wäre sie auch in jüngeren Jahren nicht als
ausgesprochen hübsch bezeichnet worden; auf der anderen
Seite trug dies zu dem allgemeinen Eindruck von
Willensstärke bei, der von ihr ausging.
Sie war ohne Kopfbedeckung und trug einen elegant
geschnittenen, grauen Wintermantel. Sie trat in den Flur
und ließ ihre Blicke über die Anwesenden gleiten auf der
Suche nach meiner Mutter, die ihre Hände aus der
Umklammerung ihrer Freundinnen gelöst und sich
erhoben hatte.
Mrs. Westerfield ging direkt auf sie zu. »Ich war in
Kalifornien und konnte nicht früher kommen, aber ich
möchte Ihnen sagen, Genine, wie sehr es mir für Sie und
Ihre Familie Leid tut. Vor vielen Jahren habe ich durch
einen Skiunfall einen Sohn verloren, daher weiß ich sehr
gut, was Sie jetzt durchmachen.«
Meine Mutter nickte dankbar, aber da tönte die Stimme
meines Vaters durch den Raum. »Es war aber kein Unfall,
Mrs.
Weitere Kostenlose Bücher