Denn vergeben wird dir nie
Anhörung ist nächste Woche. Am Montag soll ich
mit jemandem von der Bewährungskommission
sprechen.«
Er wandte sich wieder den Papieren auf seinem
Schreibtisch zu, womit er mir zu verstehen gab, dass die
Unterredung beendet war. »Geht in Ordnung«, sagte er.
Aber als ich mich umdrehte, fügte er noch hinzu: »Ellie,
Sie sind nicht so hart im Nehmen, wie Sie glauben.«
»Doch, das bin ich.« Ich hielt es nicht für nötig, ihm für
den Urlaub zu danken.
Bereits am folgenden Tag, es war ein Samstag, flog ich
von Atlanta zum Westchester County Airport und mietete
ein Auto.
Ich hätte über Nacht in einem Motel in Ossining bleiben
können, nicht weit von Sing-Sing, dem Gefängnis, in dem
Andreas Mörder einsaß. Stattdessen fuhr ich fünfzehn
Meilen weiter nach Oldham-on-the-Hudson, wo wir
damals gewohnt hatten, suchte und fand das idyllische
Gasthaus Parkinson Inn, in das wir, wie ich mich
erinnerte, manchmal mittags oder abends zum Essen
gegangen waren.
Das Gasthaus lief allem Anschein nach sehr gut. An
diesem kühlen Samstagmittag im Oktober war der
Speisesaal voll besetzt mit leger gekleideten Gästen,
überwiegend Paare und Familien. Für einen Augenblick
überkam mich eine Welle der Nostalgie. Genauso hatte ich
meine frühe Kindheit in Erinnerung, unsere Familie, wie
sie am Samstag hier zum Mittagessen an einem Tisch
versammelt war. Danach hatte Dad Andrea und mich
manchmal am Kino abgesetzt. Sie traf sich dort mit ihren
Freundinnen, aber es machte ihr nichts aus, wenn ich
dabei war.
»Ellie ist in Ordnung, sie wird uns nicht verpetzen«,
hatte sie gesagt. Wenn der Film früh genug zu Ende war,
liefen wir alle zum Garagenversteck, wo Andrea und Joan
und Margy und Dottie gemeinsam auf die Schnelle noch
eine Zigarette rauchten, bevor wir nach Hause gingen.
Andrea hatte sich eine Ausrede zurechtgelegt, als Daddy
einmal eine Bemerkung gemacht hatte, weil ihre Kleider
nach Rauch rochen. »Ich kann nichts dafür. Nach dem
Kino haben wir Pizza gegessen, und dort haben so viele
Leute geraucht.« Und dann hatte sie mir zugezwinkert.
Das Gasthaus hatte nur acht Gästezimmer, aber eines
davon war noch frei, ein spartanisch eingerichteter Raum,
in dem lediglich ein Bett mit eisernem Kopfende, ein
kleiner Schreibtisch, ein Nachttischchen und ein Stuhl
standen. Das Fenster ging nach Osten hinaus, in die
Richtung, in der das Haus lag, in dem wir gewohnt hatten.
Die Sonne war unbeständig an diesem Nachmittag, bald
tauchte sie auf, bald verschwand sie wieder hinter Wolken,
mal schien sie grell, dann wieder war sie vollkommen
verdeckt.
Ich stand am Fenster und schaute hinaus, und ich fühlte
mich wieder wie das siebenjährige Mädchen, das seinen
Vater beobachtet hatte, als er die Spieldose in der Hand
hielt.
7
IN MEINER ERINNERUNG prägte jener Nachmittag
mein ganzes weiteres Leben. Der heilige Ignatius von
Loyola hat einmal gesagt: »Zeigt mir ein Kind bis zu
seinem siebenten Lebensjahr, und ich zeige euch den
Mann.«
Ich nehme an, dass das auch für die Frauen gelten sollte.
Wie zur Salzsäule erstarrt hatte ich dagestanden, mucks
mäuschenstill, und meinem Vater, den ich anbetete,
zugesehen, wie er schluchzend das Bildnis meiner toten
Schwester an seine Brust drückte, während die zarten
Töne aus der Spieldose durch die Stille klangen.
Wenn ich heute daran zurückdenke, frage ich mich, ob
ich damals überhaupt keinen Drang verspürte, zu ihm zu
laufen, meine Arme um ihn zu schlingen, seine Trauer
aufzusaugen und sie mit der meinigen zu vermischen.
Tatsache ist, dass ich schon damals begriff, dass er in
seiner Trauer für mich unerreichbar war und dass ich
niemals seinen Schmerz würde lindern können.
Lieutenant Edward Cavanaugh, mit Auszeichnungen
versehener Beamter der New York State Police, der sich in
einem Dutzend lebensgefährlicher Situationen heldenhaft
bewährt hatte, war nicht in der Lage gewesen, den Mord
an seiner schönen, eigensinnigen, fünfzehnjährigen
Tochter zu verhindern, und sein tiefes Leid konnte nicht
mit einem weiteren Trauernden geteilt werden, wie eng
auch immer die Blutsbande zwischen ihnen sein mochten.
Aber eines habe ich im Lauf der Jahre begriffen: Wenn
die Trauer nicht gemeinsam getragen wird, dann schiebt
man sich die Schuld gegenseitig zu wie eine heiße
Kartoffel, die vom einen zum andern geworfen wird und
am Ende bei demjenigen hängen bleibt, der am wenigsten
in der Lage ist, sie wegzuschleudern.
In
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