Denn Wahrheit musst du suchen
sagen sollte.« Allie schob die Hände tief in die Rocktaschen und sah auf ihre Schuhe. »Sie denkt, du würdest sie mit mir betrügen.«
Er sah sie nicht an. »Und was hast du gesagt?«
»Dass es nicht so ist, natürlich. Dass wir befreundet sind und du dich um mich kümmerst und dass sie das akzeptieren muss.«
Er atmete aus. »Danke.«
»Und – noch was.« Sie zog Sylvains Mantel fester um sich. »Ich wollte nur … Danke sagen. Ich meine … die Gartenarbeit war nicht gerade leicht … Ich hab nicht gewusst, dass du … Ich meine, ich dachte, du
müsstest
das tun …«
Zum Kotzen, dieses Gestammel! Dreimal die Woche war er um halb sechs Uhr morgens aufgestanden, um in eisiger Kälte zwei Stunden lang harte Gartenarbeit zu verrichten, nur damit sie nicht allein war. Wieso fehlten ihr da die Worte?
»Schon gut. Du musst dich nicht bedanken.« Unerwartet setzte er ein keckes Grinsen auf. »Hatte gerade nichts Besseres vor.«
Während Allie ihn noch anstarrte und nach einer passenden Antwort suchte, wandte er sich ab und lief in großen Sätzen Richtung Schulgebäude davon.
Im Speisesaal war es bereits rappelvoll. Allie blieb an der Tür stehen, um den Anblick auf sich wirken zu lassen. Auf den Tischen lagen weiße Leintücher, die mit brennenden Kerzen, Kristallgläsern und Porzellangeschirr mit dem Cimmeria-Wappen gedeckt waren. Von der hohen Decke des Raums hingen brennende Kerzenleuchter. In dem riesigen Kamin prasselte ein wärmendes Feuer. Es roch nach gegrilltem Fleisch und Feuerholz.
Das war Cimmeria, wie es leibte und lebte. Es war zu schön – zu perfekt, um zerstört zu werden.
Aber wenn Nathaniel gewinnt, was dann?
, fragte Allie sich, während ihr Blick durch den Raum schweifte.
Wer von uns wird morgen noch hier sein?
»Ich werd mich heut mal zu Jules setzen«, sagte Carter.
»Oh.« Überrumpelt suchte Allie nach einer Antwort. Seit es die Gruppe gab, hatten sie immer an einem Tisch gesessen, doch es war klar, dass er sich nach all dem, was passiert war, zu Jules setzen musste. »Ich … Super. Das ist eine gute Idee.«
Sie sah ihm hinterher, wie er zu dem Tisch ging, an dem Jules zusammen mit Katie und anderen Freundinnen saß. Sah, wie Jules’ Gesicht erstrahlte, als sie ihn erblickte und merkte, dass er zu ihr wollte. Wie sie aufsprang, um ihn zu umarmen. Wie seine Lippen ihre streiften und ihr dann etwas ins Ohr flüsterten …
»Bitte nehmen Sie Ihre Plätze ein!«, brüllte da plötzlich Zelazny, und vor lauter Schreck machte Allie einen Satz.
Sie eilte zu ihrem üblichen Tisch. Sylvains Kaschmirmantel, der mit teurer Seide gefüttert war, glitt ihr von der Schulter. Sylvain nahm ihn mit einem wachsamen Blick in Empfang, als hätte er Angst vor dem, was sie sagen würde.
Doch sie sagte nur: »Danke für die Leihgabe. Ich hoffe, du hast keine Frostbeulen bekommen … Oder was man sonst von der Eiseskälte kriegt.«
»Gern geschehen«, sagte er. »Ich glaub nicht, dass ich welche habe.«
»Soweit ich weiß, kriegen so was nur die Leute in Dickens-Romanen«, sagte Nicole und sah sich am Tisch um.
Allie ließ sich neben Zoe auf einen Stuhl fallen und fragte dann: »Wo ist Rachel?«
Erst jetzt war ihr aufgefallen, dass die Freundin fehlte.
»Sitzt bei Lucas.« Nicole deutete zu einem Nachbartisch. Lucas hatte den Arm um Rachels Schultern gelegt, ihre Köpfe waren sich ganz nah.
»Und Carter sitzt heut Abend bei Jules.« Mit besorgtem Blick schaute Sylvain hinüber, wo die beiden über irgendwas kicherten, und dann wieder zu Allie. Sie wich seinem Blick aus.
»Ist wohl Pärchenabend«, warf Nicole ein, deren Puppenaugen nichts entging, was zwischen Sylvain und Allie passierte.
»Na, es gibt ja auch noch uns.« Zoe nahm das stumme Drama, das sich um sie herum abspielte, überhaupt nicht wahr und war so energiegeladen und
normal
, dass Allie ihr am liebsten an den Kragen gegangen wäre.
Sie hatte gedacht, dass dies der geeignete Augenblick wäre, um den anderen zu erzählen, was sie von Lucinda erfahren hatte, was es mit Orion auf sich hatte und was hinter Nathaniels Taten steckte. Doch es kam ihr irgendwie seltsam vor, wenn Rachel und Carter nicht dabei waren.
Abgesehen davon schien momentan sowieso keiner sonderlich an der ganzen Sache interessiert. Die Vorstellung, dass die Schule sich schon morgen entvölkern könnte – dass Nathaniels Kalkül aufgehen könnte –, hatte allen die Energie geraubt. Es kam ihnen sinnlos vor. Als würden sie sich nicht auf die
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