Denn Wahrheit musst du suchen
an einen sicheren Ort – und zwar alle, sofort! Wenn die einen von euch in die Finger kriegen, würde ich es erst mitbekommen, wenn es schon zu spät ist. Ich kann euch gerade überhaupt nicht beschützen, und deshalb liegt unser Plan auf Eis, bis die Sache hier vorbei ist. Und jetzt verschwinde!«
Ihr wilder Auftritt hatte den gewünschten Effekt. Kaum hatte Isabelle sie losgelassen, da rannte Allie auch schon davon. Doch sie dachte nicht so sehr an sich selbst, und trotz Isabelles Ermahnung war es nicht der Keller, dem sie zustrebte. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, spurtete sie die Treppe hinauf, während sie in ihrem Kopf die ganze Zeit nur ein einziges Wort hörte, wie ein Alarmsignal.
Rachel.
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Zweiunddreißig
Ich habe sie da ganz allein gelassen. Wenn ihr was passiert ist …
Allie raste hinauf in den Mädchentrakt. Erst dachte sie, ihr Keuchen käme vom Rennen, doch dann merkte sie zu ihrem Entsetzen, wie sich ihr Gesichtsfeld zu verdunkeln begann. Der Hals schnürte sich ihr zu, und sie hatte das Gefühl, sie müsse ersticken.
O nein! Bitte, nicht jetzt!
Wie sie es gelernt hatte, versuchte sie, durch die Nase ein- und durch den Mund auszuatmen und so die Panikattacke abzuwenden. Die Wände kamen immer näher, doch sie zwang sich, weiterzulaufen.
Ich werde nicht nachgeben
, dachte sie
. Ich werde Rachel finden, und erst, wenn ich wieder im Keller bin, bei meinen engsten Freunden, werde ich einen stillen, hübschen Nervenzusammenbruch kriegen.
Bei dem Gedanken versuchte sie, zu lachen, doch heraus kam nur ein Schluchzen. Immerhin löste sich dadurch das Band um ihre Lunge ein wenig, und während sie einen willkommenen tiefen Atemzug nahm, gelangte sie ans obere Ende der Treppe – wo sie gähnende Leere erwartete.
Der lange, enge Gang mit den vielen weißen Türen war leer. Die Schülerscharen von vorher hatten sich in Luft aufgelöst. Keine weinenden Mädchen mehr, keine wütenden Männer in schrecklichen Uniformen. Überhaupt niemand mehr.
»Rachel?« Höhnisch hallte der Name in der Leere wider.
Allie sah sich verdutzt um. Alle Türen waren geschlossen.
Muss ich jetzt jede einzeln öffnen, oder was?
»Rachel?«, rief sie noch einmal, lauter.
Auf halber Strecke des Flurs hörte sie ein Klicken, und eine Tür wurde geöffnet.
Vor Erleichterung wurde Allie ganz schwindelig. Es war die Tür zu ihrem eigenen Zimmer.
Natürlich! Bestimmt haben Rachel und Emma sich dort drin versteckt.
Sie rannte das kurze Stück bis zu ihrem Zimmer und schielte durch die offene Tür.
»Rach!«, rief sie. »Ich bin fast durchgedreht vor …«
Doch nur eine blutüberströmte Emma erwartete sie. Von Rachel keine Spur.
Mit wummerndem Herzen fuhr Allie herum und suchte nach einem Angreifer, doch abgesehen von dem Mädchen war das Zimmer leer.
Allie beugte sich zu Emma hinunter, legte ihr sacht die Hände auf die Schultern, die so zart waren wie Vogelflügel, und suchte ihren Körper nach Verletzungen ab. Das Mädchen war vor Schreck wie erstarrt.
»Emma!« Allie drehte sie hin und her, konnte aber keine Wunden finden. »Wer hat dir das angetan?«
»Ein Mann ist gekommen.« Emmas große, ängstliche Augen starrten zu ihr hinauf. »Er hat nach dir gesucht.«
Allie schluckte. »Was hat er gesagt, Emma?« Ihre Stimme klang wie aus weiter Ferne. »Und wo kommt das ganze Blut her?«
Während ihr die Tränen über die Wangen liefen, hielt Emma ihr ein zusammengefaltetes Stück Papier hin, das mit blutigen Fingerabdrücken übersät war.
»Das soll ich dir geben, hat er gesagt.«
Als Allie ihr vorsichtig das Papier aus den Fingern nahm, bahnte sich eine Träne einen Weg durch all das Blut hinunter zu Emmas Kinn, von wo sie zu Boden tropfte.
Allie war klar, dass jetzt nicht genug Zeit war, um den Zettel zu lesen. Deshalb hielt sie ihn nur fest und wandte sich wieder an Emma.
»Kannst du laufen?«
Als das Mädchen nickte, richtete Allie sich auf und nahm ihre Hand – sie fühlte sich so klein und zerbrechlich an.
»So schnell du kannst, Emma.« Sie war selbst überrascht, wie fest ihre Stimme klang.
Gemeinsam liefen sie den Flur entlang bis zu der Tür, hinter der sich die alte Dienstbotenstiege verbarg. Beim Anblick der steinernen Wendeltreppe wich Emma zurück.
»Wie dunkel es da ist.«
Doch Allie war nicht aufzuhalten. »Vor der Dunkelheit musst du keine Angst haben, Emma. Vor diesem Mann solltest du dich fürchten.«
Dann zog sie sie mit sich auf die Treppe.
Emmas abgehacktes
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