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Denn Wahrheit musst du suchen

Denn Wahrheit musst du suchen

Titel: Denn Wahrheit musst du suchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. J. Daugherty
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nicht sagte, hatte sie doch das Gefühl, dass er überrascht war, dass sie mit ihm redete. Seit jenem Abend des Winterballs war sie ihm wohlweislich aus dem Weg gegangen.
    Es war nicht so, dass sie nicht mit ihm reden wollte. Sie wusste einfach nur nicht, wie und worüber. Wenn sie nur daran dachte, wie sie sich an diesem Abend geküsst hatten, schlug ihr Herz schneller.
    Aber dann war Jo gestorben. Und ihre Welt war über Nacht eine andere geworden.
    In jener Nacht hatte sie begriffen, dass Nathaniel alle Menschen töten würde, für die sie etwas empfand. Und sie hatte sich vorgenommen, nie wieder für irgendjemanden etwas zu empfinden.
    »Muss schwer sein für dich. Nach all dem, was passiert ist«, sagte er. »Bist du bereit?«
    »Weiß nicht«, gab sie zu. »Aber ich muss es tun. Für sie.«
    Er nickte, als hätte er nichts anderes erwartet. »Hätte ich an deiner Stelle auch gemacht.«
    Überrascht blickte sie zu ihm auf.
    »Ach ja?«, fragte sie.
    »Na klar«, sagte er. »Anders geht es nicht. Man muss seine Kräfte sammeln und kämpfen. Und gewinnen.«
    »Danke«, erwiderte sie aufrichtig. »Das hilft mir.«
    Wenn er lächelte, wurden seine markanten Züge etwas weicher und ließen ihn fast jungenhaft aussehen – weniger abgeklärt. Manchmal wirkte er so erwachsen, dass man leicht vergaß, dass er erst sechzehn war.
    Sylvain sah auf die Uhr, und sein Lächeln erstarb.
    »Ich fürchte, wir kommen beide zu spät«, sagte er. »Ich muss vorher noch mal nach oben.«
    »Klar«, sagte Allie und machte einen Schritt zur Seite.
    »Allie …«
    Sie sah ihn fragend an, aber er schien es sich anders überlegt zu haben.
    »Ach, nichts«, sagte er. »Wir sehen uns gleich unten.«
    Mit der Geschmeidigkeit eines Panthers eilte er davon, und Allie machte sich allein in den Keller auf.
    Die einst so vertraute Kellertreppe hatte nie weniger einladend ausgesehen als jetzt. Und der Weg über den langen, schmuddeligen Flur war nie einsamer gewesen.
    Sie war erleichtert, als sie die Mädchen-Umkleide erreicht hatte.
    Der große Raum war weitgehend leer, bis auf eine Handvoll Mädchen, die gerade dabei waren, sich in ihre schwarze Night-School-Trainingsmontur zu werfen.
    In einer Ecke sah sie Nicole, die noch ihre Schuluniform trug. Sie raffte gerade ihre Haare, um sie zu einem Pferdeschwanz zusammenzubinden. Dabei trafen sich ihre Blicke.
    Nicole schien nicht überrascht, sie zu sehen – oder falls sie es war, verbarg sie es gut.
    »Und? Bist du bereit, dich wieder durch den Fleischwolf drehen zu lassen?«, fragte sie.
    »Ach, so heißt das jetzt?«, fragte Allie und rang sich ein Lächeln ab.
    »Ist doch eine ganz passende Bezeichnung,
n’ est-ce pas

    Nicoles bitterer Unterton spiegelte Allies Seelenlage perfekt wider. Irgendwo zwischen tapfer und wütend.
    Die beiden hatten sich erst gegen Ende des letzten Trimesters ein wenig kennengelernt, doch Allie hatte Nicole schnell ins Herz geschlossen. Sie war zwar entschieden zu hübsch – klein und schlank, mit großen, braunen Augen –, schien aber vor nichts und niemandem Angst zu haben.
    »Aber ehrlich«, stimmte Allie zu und ging zu ihrem Kleiderhaken, über dem in akkurater Schablonenschrift der Name »Sheridan« geschrieben stand. Dort hingen ein Paar schwarze Leggings, zwei eng anliegende, langärmlige Tops – eines für drinnen, eines für draußen – und eine Jacke mit Reißverschluss. Auf der Holzbank darunter standen ein Paar robuste, wasserdichte Laufschuhe, daneben lagen eine schwarze Wollmütze und Thermohandschuhe.
    Haben die Klamotten die ganze Zeit da gehangen, während ich nicht dabei war? Und darauf gewartet, dass ich zurückkomme?
    Statt ihre weiße Bluse aufzuknöpfen, zog Allie sie sich einfach über den Kopf – sodass sie danach linksherum dalag. Als sie nach einem der Tops griff, bemerkte sie, wie Nicoles Augen über ihre Narben huschten, die sich rot von der weißen Haut ihrer Arme und ihres Rumpfs abzeichneten. Es war das erste Mal, dass jemand anders als ihre Ärzte sah, wie sehr sie der Unfall entstellt hatte. Errötend zog sie sich rasch das schwarze Oberteil über den Kopf.
    Nicole bemerkte ihre Verlegenheit und schüttelte den Kopf.
    »Du brauchst dich gar nicht zu schämen für deine Narben«, sagte sie. Überrascht sah Allie zu ihr hinüber. »Sei doch stolz auf sie. Sie sind ein Symbol dafür, dass du überlebt hast. Dass du stark bist.«
    So ein Quatsch
, dachte Allie empört.
Ich bin nicht stark. Ich bin eine Versagerin.
    Sie

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