Denn Wahrheit musst du suchen
Gründlich untersuchte sie auch die Seitentaschen, fand aber nichts.
Unterdessen dachte sie darüber nach, was Sylvain gesagt hatte. Wie leicht er ihren Versuch durchschaut hatte, zu überspielen, was im Wald passiert war. Und schuldbewusst musste sie daran denken, wie schlecht sie ihn damals nach Jos Tod behandelt hatte – als wäre er ein Problem, für dessen Lösung sie gerade keine Zeit hatte. In vielerlei Hinsicht hatte sie ihn behandelt, wie Carter sie behandelt hatte.
Diese Erkenntnis ließ sie mitten in der Bewegung innehalten. Sie blickte über die Schulter durch die offene Tür zum Wohnzimmer, wo sie Sylvain im Inhalt der Schreibtischschubladen kramen hörte. Sie sah seine schnellen, geschickten Bewegungen vor sich, während er nach Indizien dafür suchte, dass sein Mentor einem Mörder geholfen hatte.
Der Fußboden fühlte sich kalt an, während sie den Koffer schloss und langsam unters Bett zurückschob.
Seit Jos Tod hatte sie sich alle Mühe gegeben, nichts zu empfinden. Doch jetzt war es, als hätten Carters Küsse eine Tür aufgestoßen, die sie mit aller Macht hatte geschlossen halten wollen. Ein Schwall von Gefühlen überschwemmte sie.
Sylvain war kein einfacher Mensch, und in der Vergangenheit war zwischen ihnen so ziemlich alles schiefgelaufen. Trotzdem hatte er sich die ganze Zeit um sie gesorgt, hatte sie nie aufgegeben und sich etwa eine andere gesucht. Hatte sie nie bedrängt. Allie hatte ihn über Wochen links liegen gelassen, doch er hatte immer weiter auf sie gewartet. Hatte Geduld aufgebracht. War … treu geblieben.
»Hast du was gefunden?«
Beim Klang von Sylvains Stimme zuckte Allie schuldbewusst zusammen, als wüsste er, dass sie an ihn gedacht hatte.
»Noch nicht.«
Sie zog den anderen Gegenstand unter dem Bett hervor, einen Pappkarton, dessen Deckel nicht verschlossen war. Der Karton sah aus, als würde er häufig geöffnet und sein Inhalt hervorgeholt.
Auf den ersten Blick schien er nur Andenken und Aufzeichnungen zu enthalten. Auch alte Bankauszüge fanden sich – die sie sich geflissentlich nicht näher anschaute – sowie ein paar Rechnungen und Briefe, die an »Mr August S. Zelazny« adressiert waren.
Wofür steht wohl das S.?
dachte Allie.
Auf dem Boden der Schachtel lag ein Buch in Hellblau und Weiß, das ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Es war überschrieben mit: »Dein Baby-Buch«.
Stirnrunzelnd schlug sie es auf und entdeckte das Foto eines kleinen Neugeborenen, das empört das rote Gesichtchen verzog.
Über dem Foto stand die jubelnde Überschrift: »Dein erstes Foto!«
Darunter der Name des Babys: Arnold August Zelazny. Das Geburtsdatum lag fünfzehn Jahre zurück.
Zelazny hat einen Sohn?!
Verwundert las sie noch mal nach. Ein Kind hatte er nie erwähnt. Und verheiratet war er auch nicht, so viel stand fest.
Sie blätterte um. Ein Foto von Zelazny in jüngeren Jahren, lächelnd und mit wenig Ähnlichkeit zu heute. Damals hatte er noch mehr Haare gehabt und ein Grübchen am Kinn. Entspannt sah er aus und … fröhlich. Neben ihm stand lächelnd eine brünette Frau, deren Frisur etwas durcheinandergeraten war, als wäre sie gerade dem Bett entstiegen. Vorsichtig wie Porzellan hielten sie ihr Baby.
Bestürzt betrachtete sie das Foto.
Was mag da passiert sein?
, fragte sie sich, den Finger auf dem Rand der Seite. Das dicke Papier war tadellos – wie für die Ewigkeit gemacht.
Allie hatte den entsetzlichen Verdacht, dass etwas Schreckliches geschehen war. Babys verschwinden nicht einfach so aus deinem Leben.
Sie blätterte um und stieß auf weitere Fotos des Babys: mit Haaren, lächelnd mit kleinen Zähnchen. Die Daten, an denen es zu laufen begonnen, die ersten Wörter gebrabbelt hatte. Karten zu seinem ersten Geburtstag.
Dann plötzlich nichts mehr.
Sorgfältig suchte sie überall in dem Pappkarton, doch von dem Kind fand sich ansonsten keine Spur. Als wäre sein ganzes Leben in diesem einen Buch.
Vorsichtig legte Allie alles zurück und schob den Karton wieder in sein Versteck.
Arnold Zelazny: Was ist mit dir passiert?
Sylvain tauchte in der Tür auf, mit geflissentlich ausdrucksloser Miene.
»Im Schreibtisch ist nichts. Hast du was gefunden?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nichts.«
Er wirkte erleichtert, und sie konnte ihn verstehen. Vielleicht war es ja doch nicht Zelazny.
»Dann sollten wir mal wieder. Hier verschwenden wir nur unsere Zeit.«
Sie wollte ihm schon folgen, als ihr auffiel, dass die »Konfliktlösung« noch auf dem
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