Denn wer zuletzt stirbt
niemand diese herrliche Wohnung erben würde.
Eine Weile versuchte ich noch, mit mehr Aufmerksamkeit wenigstens virtuell Millionär zu werden, gab aber schließlich auf und rief meine Station an.
»Hier ist Dr. Hoffmann. Ich brauche die Adresse von Herrn Kiesgruber.«
»Die weiß ich nicht«, antwortete mir eine Schwesternschülerin.
»Das glaube ich Ihnen. Aber seien Sie bitte so gut, und schauen Sie in seiner Akte nach.«
»Ich muß noch die Medikamente für die Nacht stellen.«
Die Zeiten, zu denen Krankenschwestern widerspruchslos die Anordnungen der Ärzte ausgeführt haben, ist längst vorbei, und im Prinzip unterstütze ich das Mitspracherecht, das sich die Schwestern erstritten haben. Im Moment allerdings fehlte mir die Lust, mit einer Schwesternschülerin im ersten Lehrjahr zu diskutieren.
»Hören Sie zu. Ich gebe Ihnen jetzt eine dienstliche Anweisung. Sie suchen mir die Adresse von Herrn Kiesgruber heraus, dann stellen Sie die Medikamente für die Nacht. Und morgen können Sie sich bei der Pflegeleitung über mich beschweren.«
Mit Hilfe des Stadtplans fand ich heraus, daß die Wiltinger Straße in Frohnau liegt. Ein wunderschöner Stadtteil, vor gut hundert Jahren als Gartenstadt angelegt, aber am anderen Ende von Berlin, mindestens eine halbe Stunde mit dem Auto, eher vierzig Minuten. Außerdem ist Frohnau ein Stadtteil, in dem ich mich regelmäßig verfahre, zumal in der Nacht.
Am Ende war es gar nicht so schwer, die Wiltinger Straße zu finden, wenn man erst einmal kapiert hatte, welcher der beiden nur durch eine S-Bahn-Brücke getrennten Plätze der Zeltinger Platz und welches der Ludolfinger Platz ist. Trotzdem war es ziemlich spät, als ich Kiesgrubers Adresse gefunden hatte.
Kiesgruber hatte nicht übertrieben. Ich hielt vor einer großen Villa im Muthesius-Stil, irgendwann in einzelne Wohnungen unterteilt, fast alle mit Terrasse oder Wintergarten. Lage direkt am Wald, in den gepflasterte Straßen führten, Zeugen der geplanten und nie durchgeführten Erweiterung der Gartenstadt Frohnau. Was ich jedoch erwartet beziehungsweise gefürchtet hatte, den Galgen der Maklerfirma Manfred Marske mit dem Hinweis »Luxusappartement zu verkaufen«, fand ich nicht. Natürlich fühlte ich mich erleichtert, aber auch ein bißchen paranoid. Von diesem nächtlichen Ausflug würde ich selbst Celine nichts erzählen.
So wie am nächsten Tag meine Station unverändert hustete, weiter unter Durchfall litt und allgemein schlecht drauf war, weilte auch Kiesgruber unverändert unter uns Lebenden. Sein EKG zeigte unter der neuen Medikation nur noch relativ harmlose Rhythmusstörungen, und das Fieber war auch nicht wieder angestiegen. Er wollte zwar weiterhin sterben, besprach aber gerade detailliert den Menüplan für die kommende Woche mit Schwester Käthe.
Deshalb erinnere ich mich noch genau: Für Montag hatte Kiesgruber nach langem hin und her »Curryhuhn auf Reis« bestellt – doch am folgenden Montag stand ich vor einem leeren, frisch bezogenen Bett. Im Stationsbuch erkannte ich die Handschrift von Schwester Renate: »1 Uhr 25, Patient Kiesgruber tot aufgefunden. Wegen Alter und Allgemeinzustand keine Reanimationsmaßnahmen eingeleitet.« Meinetwegen würde ich mich ein zweites Mal zum Narren machen, aber nach Dienstschluß ordnete ich mich auf der Stadtautobahn erneut in Richtung Frohnau ein.
Heute war das blaue Schild am weißen Galgen nicht zu übersehen: »Exklusive Eigentumswohnung, ab sofort frei. Immobilien Marske, Telefon ...« Unten rechts schien Licht aus einem Küchenfenster, ich klingelte. Nachdem eine weibliche Stimme es letztlich geschafft hatte, mit Bitten, scharfen Befehlen und schließlich wüsten Drohungen ihren Kläffer zu beruhigen, öffnete eine ältere Dame die Tür einen Spalt, so weit es die vorgehängte Sicherungskette erlaubte.
»Seit wann dieses Schild hier hängt? Seit Mittwoch, glaube ich, oder Donnerstag.«
Hilfsinspektor Hoffmann war keinen Zentimeter stolz, recht behalten zu haben. Ziemlich deprimiert trat ich den Heimweg an.
Ich ließ Kiesgrubers Leiche sezieren – da keine Angehörigen im Aufnahmebogen angegeben waren, brauchte ich niemanden um die Genehmigung zu bitten. Die Pathologen fanden nichts Verdächtiges: »Disseminierte chronisch-degenerative und akutentzündliche Veränderungen des Herzmuskels und des Endokards mit beginnender Beteiligung des Klappenapparates. Natürlicher Tod, finales Herz-Kreislaufversagen.«
Es ist keine große Kunst, jemanden im
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