Denn wer zuletzt stirbt
wollte sie das Thema auf der nächsten Personalvollversammlung ansprechen.
Unsere Personalvollversammlungen sind ein Kind der Umstrukturierung der Humana-Klinik nach ihrer Bekanntschaft mit dem organisierten Verbrechen. Unser Idealmodell, eine Klinik im Besitz und in voller Verantwortung ihrer Mitarbeiter, hatte sich allerdings bedeutende Abstriche gefallen lassen müssen. Es gab kein juristisches Vorbild, auch die »volkseigenen« Betriebe in der DDR hatten nicht wirklich den dort Beschäftigten gehört oder dem Volk. Und unsere Krankenschwestern, Ärzte und Verwaltungsleute wollten zwar gerne mitreden, aber weniger gerne die Konsequenzen von kollektiven Entscheidungen mittragen.
Sie fühlten sich zu Recht sicherer mit einem festen Gehalt als mit möglichen Gewinnanteilen an einer Klinik, die im dauernden Kampf gegen die Finanzierungslücken des vom Gesundheitsministerium und der dort gerade aktuellen Ministerin favorisierten Verteilungsmodells stand. So arbeiten wir zur Zeit auf Basis einer Mischkonstruktion, die Beate ausgearbeitet hatte und die leidlich funktioniert.
Schauplatz unserer Personalvollversammlungen ist der ehemalige Versorgungstrakt, in dem wir neulich Silvester gefeiert hatten, nur hier gibt es genug Platz für das gesamte Personal. Genug Platz, aber nicht genug Sitzmöglichkeiten. Also beobachtete ich von meinem Schreibtisch aus den Gänsemarsch der Mitarbeiter, die sich, einen Stuhl unter den Arm geklemmt, in Richtung ehemaliger Versorgungstrakt bewegten. Es wurde Zeit, mich der Prozession anzuschließen.
Unbezahlte Überstunden, Suche nach preisgünstigen Alternativen bei Medikamenten und »sorgfältigste Indikationsstellung« für technische Untersuchungen: Beates Appelle an unsere Sparsamkeit unterschieden sich inhaltlich kaum von denen ihres Vorgängers, Verwaltungsleiter Dr. Bredow, wenn auch im Ton konzilianter vorgetragen. Natürlich forderte sie uns nicht auf, eine schlechtere Medizin zu machen, aber in der Konsequenz würde es irgendwann dazu kommen. »Den Mangel verwalten« hieß der gängige Leitsatz dazu.
»Dann ist da noch eine andere Sache. Es bestehen deutliche Hinweise, daß aus unserer Klinik heraus Wohnungen vermittelt beziehungsweise an eine Maklerfirma weitergegeben werden, und zwar Wohnungen von Patienten mit eindeutig finaler Prognose. Ich bin mir nicht sicher, vielleicht ist eine solche Aktivität juristisch nicht einmal angreifbar, aber moralisch ist das nicht in Ordnung. Und wenn so etwas publik wird, können Sie sich alle die Konsequenzen für die Klinik ausmalen. Jedenfalls muß das sofort aufhören. Und ich bitte den- oder diejenige, die hinter dieser Sache steckt, in den nächsten Tagen in meinem Büro vorbeizukommen, daß wir die Angelegenheit ganz unter uns und diskret aus der Welt schaffen können.«
Mit guten Wünschen für das neue Jahr, einem erneuten Aufruf zur Sparsamkeit und der Verpflichtung zur absoluten Verschwiegenheit über die Geschichte mit der Wohnungsvermittlung beendete Beate die Vollversammlung.
Wenigstens innerhalb der Klinik konnte von Verschwiegenheit keine Rede sein, noch mit seinem Stuhl unter dem Arm raunzte mich Intensivarzt Valenta an.
»Das kommt doch von dir, das mit der Maklerfirma und unseren Patienten, oder nicht?«
Ich gab es zu.
»Dann bist du es auch, dem ich die Akten von diesen toten Patienten zu verdanken habe, was?«
»Stimmt.«
»Wahrscheinlich meint ihr, ich sei auf der Intensivstation nicht ausgelastet. Schönen Dank. Jedenfalls, ich bin jetzt durch mit den Akten, und ich kann dir versichern, diese Leute sind alle nur aus einem Grund gestorben: weil sie alt waren und sterbenskrank. Da brauchte niemand nachzuhelfen, falls du Beate auch noch diesen Floh ins Ohr gesetzt hast.«
»Freut mich zu hören, daß die Leute auf meiner Station wenigstens nicht umgebracht werden.«
Wie gesagt, ich hatte Beate bisher nichts vom Patienten Winter und der falschen Sicherung erzählt.
»Eine Gemeinsamkeit verbindet diese Toten allerdings«, fuhr Kollege Valenta fort. »Sie hatten alle mit dem Leben abgeschlossen, keinen Willen, keine Lust mehr. Von einigen ist sogar in den Akten dokumentiert, daß sie um Sterbehilfe gebeten hatten. Haben sie natürlich nicht bekommen.«
Irgendwie schien Valenta mir die Sache übelzunehmen, ganz, als betriebe ich selbst diesen schwunghaften Wohnungshandel oder hätte ihn zur Kontrolle der Akten verdonnert. Jedenfalls drehte er sich im Gehen noch einmal zu mir um.
»Natürlich, Felix, einige
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