Depeche Mode
Der von seinem Sohn. Wasja Stalin. Fußballspieler.
– Aha, und Trotzki war Basketballspieler. Beim Verein »Arbeiterreserve«.
– Wieso denn Trotzki, – wiederholt Tschapaj einen mir schon bekannten Satz, er sitzt auf einem Hocker und zündet den Joint an. – Trotzki hat nichts damit zu tun. Du, – sagt er zu Wasja und reicht ihm den Joint, – solltest das eigentlich verstehen. Die da, – er bläst den Rauch in unsere Richtung, – werden es sowieso nie verstehen, die sind mit dem Bazillus des Kapitals infiziert, aber du, – er nimmt Wasja den Joint ab, tut noch einen Zug und gibt die Fluppe wieder zurück, – solltest das eigentlich verstehen. Kennst du die Theorie des permanenten Piep-Schnurzismus?
– Was? – Wasja muß husten und reicht mir den Joint. – Was für ein Schnurzismus?
– Der permanente, – Tschapaj rückt seine Brille zurecht. – Also, die Bezeichnung stammt von mir. Eigentlich heißt es Theorie des permanenten Zerfalls des Kapitals. Ich nenne sie aber lieber Theorie des permanenten Piep-Schnurzismus.
– Ja, – meldet sich Dog zu Wort und nimmt mir den Joint ab, – das mit dem permanenten Piep-Schnurzismus klingt cooler.
– Was ist das für eine Theorie? – frage ich und warte, bis ich wieder zum Zug komme.
– Ganz einfach, – sagt Tschapaj, stößt den Rauch aus und reicht den Joint weiter. – Sie wurde von den Genossen aus dem Donezker Gebietskomitee entwickelt.
– Oho, – sage ich, – die entwickeln viel.
Tschapaj schaut mich fragend an.
– Meine Landsleute, – erkläre ich.
Er nickt beifällig, holt ein Drei-Liter-Glas mit irgendwelchem Saft unter dem Tisch vor, trinkt einen Schluck und reicht es mir. Nee, winke ich ab, ich rauche lieber.
– Also, – fährt Tschapaj fort, nachdem er sich mit dem Ärmel die blutigen Tomatenflecken vom Mund gewischt hat.
– Im Prinzip ist es eine revisionistische Theorie. Basiert auf der Revision von Marx’ Grundidee. Der Idee von der Autarkie des Proletariats. Hast du, – fragt er mich, da Wasja sich irgendwo hinter dem Rauch versteckt, – den Briefwechsel zwischen Marx und Engels gelesen?
– Nein, – sage ich, – aber ich weiß, daß sie Freunde waren.
– Richtig, – sagt Wasja, – echte Freunde. Ehrliche Freunde, kapiert?
– Ehrliche Freunde, – sage ich, – kapiert.
– Und die beiden, – fährt Tschapaj fort, – haben einen coolen Briefwechsel geführt, gewissermaßen noch cooler als »Das Kapital«.
– Was kann noch cooler sein als »Das Kapital«? – wirft Dog ein bißchen unpassend ein, aber ich gebe ihm den Joint, und er hält den Mund.
– In der Sowje, – sagt Tschapaj, – wurde eben »Das Kapital« zur Grundlage genommen. Darin besteht, wenn ihr mich fragt, der grundlegende tragische Fehler der sowjetischen Ideologie. Man hätte dem Briefwechsel mehr Aufmerksamkeit schenken sollen. Dem Briefwechsel zwischen Marx und Engels. Die Genossen vom Donezker Gebietskomitee haben das bewiesen, – sagt er voller Überzeugung und raucht den Joint ab.
Zwanzig oder dreißig Minuten schweigen alle und sinnieren über die Genossen vom Gebietskomitee Donezk. Endlich kommt Tschapaj von seinem Trip zurück und baut einen neuen Joint.
– In einem Brief, – sagt Tschapaj, zieht und reicht den Joint dem bewußtlosen Wasja, – aus der Frühzeit, – erklärt er, – der sogenannten Hamburger Periode …
– Fast wie bei den Beatles, – sage ich.
– Marx hat damals viel mit dem Gesellschaftsbewußtsein experimentiert.
– Wie bitte? – Wasja wacht bei diesen Worten auf.
– Na, – sage ich, – Tschapaj sagt, daß dein heißgeliebter Marx seinerzeit in Hamburg auf der Reeperbahn mit der Bewußtseinserweiterung experimentiert hat.
– Säure geschluckt, – Dog wird sichtlich nervös, kann kaum erwarten, bis er an die Reihe kommt.
– Und als Folge dieser Experimente, – fährt Tschapaj fort, – entdeckte er das AuS-Prinzip.
– Was???
– Die Autonome Sektion, – sagt Tschapaj. – Simple Idee – von Anfang an kriegen wir ein falsches Bild von den Produktionsverhältnissen vermittelt. Der Fehler, – sagt Tschapaj, – liegt vor allem in der Annahme, permanentes Kapitalwachstum sei notwendig. Das ist eine Fiktion, – sagt Tschapaj resolut, reißt mir außer der Reihe den Joint aus der Hand und zieht gierig.
– Was ist Fiktion? – Ich verstehe nicht und versuche, mir den Joint wieder zurückzuholen.
– Alles ist Fiktion, – sagt Tschapaj nach kurzem Überlegen.
Weitere Kostenlose Bücher