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Depesche aus dem Jenseits

Depesche aus dem Jenseits

Titel: Depesche aus dem Jenseits Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Bellemare
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Reihen. Stavenger fordert seine Assistentin auf, den Totenschrein zu öffnen. Die Blondine mit Zylinder und Netzstrümpfen schließt mit einem riesigen goldenen Schlüssel den Sarg auf und hebt den schweren Deckel.
    »Meine sehr verehrten Damen und Herren! Kommen Sie! Treten Sie näher! Überzeugen Sie sich selber! Bitte, legen Sie sich in den Sarg hinein, wenn Ihnen danach zumute ist! Ein unvergeßlicher Eindruck! Ein Erlebnis!« Im Gänsemarsch begeben sich die neugierigen Zuschauer über eine kleine Treppe auf die Bühne. Sie bestaunen die makabre Kisten, inspizieren sie genau und gehen auf der anderen Seite wieder hinunter zu ihren Plätzen. Nur die ganz mißtrauischen Zuschauer tasten die Innenpolsterung ab, doch niemand verspürt das Verlangen, die Bequemlichkeit des mit hellblauer Seide überzogenen Ruhelagers zu testen. Alle sind restlos überzeugt: der Sarg ist echt — tatsächlich, ein ganz normaler Sarg.
    Emil Stavenger steht wie eine Statue in martialischer Haltung, bis der letzte Zuschauer wieder Platz genommen hat und wendet sich nun an das Publikum:
    »Ich darf jetzt den mutigen jungen Mann, der sich zu Beginn der Vorstellung als Freiwilliger gemeldet hat, zu mir bitten! Bühne frei für Herbert Pass!«
    Aus der Beifall klatschenden Menge erhebt sich ein blonder Jüngling von ungefähr zwanzig Jahren, schlängelt sich an den Zuschauern vorbei und steigt leichten Fußes auf die Bühne. Die Assistentin bindet ihm die Arme hinter dem Rücken zusammen und stülpt eine schwarze Kapuze über seinen Kopf. Dann führt sie ihn vorsichtig zum Sarg — er legt sich hinein, macht es sich bequem und ruft laut:
    »Wunderbar! Wie maßgeschneidert! Es kann losgehen!« Der Zauberer senkt den massiven Deckel und verschließt den Sarg zuerst mit dem goldenen Schlüssel, dann mit einem mächtigen Vorhängeschloß. Danach lehnt er sich lässig an ein Pult auf der Vorderbühne, als wollte er einen Vortrag halten und erklärt auch ganz sachlich:
    »Sie konnten sich selber überzeugen: Das Sargvolumen beträgt etwa 400 Kubikdezimeter. Angesichts der Körpermaße des jungen Mannes bleiben ihm darin etwa 100 Kubikdezimeter Luft zum Atmen. Nun, der Mensch benötigt mindestens acht Kubikdezimeter Sauerstoff pro Minute. Rechnen Sie selber nach! Herbert Pass hat also noch zwölf Minuten zu leben, das heißt... mittlerweile sind es nur noch elf Minuten!«
    Eine Kunst-Pause und dann knallhart:
    »Aber, mein sehr verehrtes Publikum, das wäre zu einfach! Wir wollen den Sarg ins Wasser tauchen!«
    Unter den faszinierten Blicken der Zuschauer hebt sich der an einem Flaschenzug befestigte Sarg nun langsam von der Bühne, schwankt ein wenig über dem Bassin und taucht schließlich gänzlich ins Wasser.
    »Herbert Pass hat noch neun Minuten zu leben! Der Sarg bleibt aber im Wasser bis zum Ende der Vorstellung! Und sie wird ab jetzt genau eine Stunde dauern! Eine volle Stunde — keine Minute weniger!«
     
    Zur Auflockerung der Stimmung fügt der Zauberer hinzu:
    »Natürlich wird unserem Helden der Eintrittspreis zurückerstattet!«
    Eine Stunde lang unterhält nun Emil Stavenger das Publikum mit allerhand Zaubereien, sozusagen um die Zeit totzuschlagen... bis der Sarg wieder geöffnet werden darf. Dann, auf die Minute genau, setzt der Magier den Flaschenzug wieder in Gang und zieht ihn aus dem Wasser. Die Schlösser werden entriegelt, der massive Deckel geöffnet: Der junge Mann richtet sich auf und steigt mit Hilfe der Blondine aus dem grausigen Sarkophag. Stavenger befreit Herbert Pass von den Fesseln und reißt ihm mit theatralischer Geste die Kapuze vom Kopf. Der Auferstandene blinzelt im grellen Licht der Scheinwerfer und fragt völlig verdattert, als käme er von sehr weit her zurück:
    »Wie... wie lange war ich denn da drinnen?«
    »Eine Stunde! Wie vereinbart! Ich halte mein Wort!« Tosender Beifall bricht los. Wirklich eine tolle Nummer!
     
    Emil Stavenger und seine Assistentin reisen von Stadt zu Stadt, und wo immer sie auftreten — die Leute geraten außer Rand und Band. Anfang der fünfziger Jahre hat das Fernsehen noch nicht überall seinen Einzug gehalten — das Publikum ist noch dankbar für solche Kunststücke. Selbstverständlich glauben dabei nur ganz wenige Menschen an ein Wunder — aber trotzdem: die Darbietung ist verblüffend.
    Im Laufe des Jahres führt Stavenger seine Nummer insgesamt 38mal vor. Natürlich findet sich immer ein Freiwilliger aus dem Publikum. Dafür sorgt der Künstler selbst allerdings lange

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