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Depesche aus dem Jenseits

Depesche aus dem Jenseits

Titel: Depesche aus dem Jenseits Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Bellemare
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seit einer guten Viertelstunde sitzen die Männer schweigend vor dem Bildschirm — ohne einzugreifen. Die Spannung ist fast unerträglich geworden, aber sie müssen das Experiment bis zur äußersten Grenze vorantreiben. Sie dürfen es jetzt noch nicht abbrechen! Sie dürfen nur mit Raimbaud über den Lautsprecher reden:
    »Professor, hören Sie mich? Wovor haben Sie Angst? Bitte antworten Sie!«
    Dazu ist er nicht mehr in der Lage. Statt dessen packt er wieder den Hocker und schleudert ihn mit aller Kraft gegen die Kamera. Das Bild ist weg — man hört nur noch ein verzweifeltes Wimmern.
    Jetzt ist es genug! Die beiden Assistenten stürzen aus dem Zimmer und rennen zur Zelle. Als der Oberaufseher die Eisentür aufschließt, sehen sie Dr. Raimbaud schweißgebadet und schluchzend in der Ecke stehen. Er brüllt sie an:
    »Ich bin unschuldig! Ich will nicht sterben! Ich war niemals in Collonges! So lassen Sie mich doch! Ich war es nicht!«
    Wer er nicht gewesen ist, das weiß im Augenblick niemand. Aber eines steht fest: Dieser Mann hier, der tobt und vor Angst stirbt, ist nicht Dr. Raimbaud. Es ist dieselbe Person, die drei Jahre vorher Raymond Latour und dann die beiden anderen Häftlinge in der Zelle 341 immer nachts überfallen hat!
    Die beiden Assistenten tragen den Professor in ein Krankenzimmer und verabreichen ihm eine hohe Dosis an Beruhigungsmitteln. Dann schläft er zwölf Stunden durch. Als er erwacht, erinnert er sich vage an einen Alptraum: »Eine fiebrige Unruhe befiel mich. Ein lähmendes Entsetzen, das mir den Atem verschlug und so beklemmend wurde, das ich aufstehen mußte! Aus dem Fenster sah ich, wie man unten im Hof ein Schafott errichtete. Dann hörte ich Schritte im Gang, man holte mich zur Hinrichtung.«
    Erst jetzt darf Professor Raimbaud die Bilder seiner Nächte im Gefängnis sehen, den Film über sein Leben in der Zelle 341. Er ist zutiefst bestürzt und erkennt sich selber nicht: der Gesichtsausdruck, die Bewegungen, überhaupt das ganze Verhalten — alles ist so befremdend. Dieses Häufchen Elend, das wimmert und zittert, das schreit und mit verzerrtem Gesicht beteuert: »Ich war niemals in Collonges!« Das soll er sein? Nein. Das ist er nicht. Und daran zweifelt jetzt auch niemand mehr. »Herr Direktor, jetzt können Sie nachforschen. Wir haben zwei Fakten: Eine Hinrichtung hier im Hof und einen Namen: Collonges!«
     
    Im Umkleideraum erhält Dr. Raimbaud seinen eleganten Zweiteiler zurück und schlüpft endlich wieder in seine eigene Haut.
    Währenddessen sitzt der Gefängnisdirektor vor einem großen, in schwarzes Leinen gebundenen Buch. Er überprüft systematisch Seite für Seite — alle Gefangenenlisten: Name der Häftlinge, Grunde der Verurteilung, Nummer der Zellen, Tag der Hinrichtung — alles steht hier fein säuberlich aufgeschrieben.
    »Das ist ja interessant, da schau mal einer an«, entfährt es ihm plötzlich. Und schon läuft er zum Umkleideraum. Der Professor ist noch da, Gott sei Dank!
    »Dr. Raimbaud! Ich habe was gefunden! Ein gewisser Pierre Gabaud ist auf der Liste von Zelle 341 eingetragen! Er hatte drei Morde begangen, alle drei in Collonges! Und er wurde in Fresnes hingerichtet! Vor 55 Jahren!«
    Also — Pierre Gabaud. Aber warum nur? Warum kehrt er 1982 in seine Zelle zurück?
    In den Archiven der Pariser Polizei kommt nach einigem Stöbern schließlich eine verstaubte Akte zum Vorschein. Sie enthält den Urteilsspruch über den Dreifachmörder von Collonges und den abschließenden Bericht:
    »Am 12. Januar 1927 wurde der Tischlerlehrling Pierre Gabaud, der des Mordes an drei alten Frauen angeklagt war, zum Tode verurteilt. Er wurde im Hof des Gefängnisses von Fresnes hingerichtet.«
    Das ist aber noch nicht alles. Ferner steht geschrieben: »Am 3. Dezember 1945 hat der Pariser Gerichtshof das Todesurteil widerrufen und den unschuldigen Tischlerlehrling freigesprochen.«
    18 Jahre nach der Hinrichtung, 18 Jahre zu spät.
    Und am 21. Juni 1984 traf das französische Justizministerium eine seltsame Entscheidung: Dem Gefängnisdirektor von Fresnes wurde von höchster Stelle genehmigt, die Zelle 341 für alle Zeiten zu vermauern.
    Ob der unschuldig hingerichtete Pierre Gabaud mittlerweile in seinem Grab Ruhe gefunden hat? Hoffentlich — denn in seine Zelle 341 kann er nun nie mehr zurückkehren.
     

Der Mann mit den Schnallenstiefelchen
     
    Es gab einen gewaltigen Ruck! Die alte Dame wird heftig nach vorne geschleudert, der Fahrer klammert sich mit aller

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