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Depesche aus dem Jenseits

Depesche aus dem Jenseits

Titel: Depesche aus dem Jenseits Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Bellemare
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und sehr kalt. Er geht an dem Gefängnistrakt neben dem Hauptportal vorbei, dann die hohe, mit grellen Scheinwerfern beleuchtete Mauer entlang und kommt schließlich zu dem verwahrlosten Nebenhaus, zum sogenannten »Domizil der Todeskandidaten«. Hier ist wirklich kein Entkommen möglich. Reine Routine für Laperre.
    Seit 30 Jahren ist er Gefängniswärter in Fresnes und noch nie hat ein zum Tode Verurteilter versucht, aus diesem Kerker zu entfliehen.
    An diesem Wintermorgen jedoch bemerkt er zum ersten Mal etwas Ungewöhnliches: Ein weißes Band hängt aus einem Fenster und flattert im Winde — aneinandergeknotete Leinentücher! Ein Ausbruch!
    Sekundenschnell schlägt er Alarm. Die Sirenen heulen in der Morgendämmerung, die grellen Strahlen der Scheinwerfer gleiten über das Gelände, suchen jeden Winkel ab, bewaffnete Männer schwärmen in alle Richtungen aus, während Laperre in die Zelle des Ausbrechers stürzt — in die Zelle 341.
    Das Fenster steht offen. Die Gitterstäbe sind durchgesägt. Und — Laperre traut seinen Augen nicht — der Häftling liegt auf der Pritsche! Er zappelt und strampelt wie ein Verrückter, er kämpft gegen irgend jemanden — im Traum. Ja, er schläft und wird anscheinend von fürchterlichen Alpträumen heimgesucht.
    Als die Wärter ihn endlich wachrütteln, zittert er noch am ganzen Leib vor Angst. Aber er kann noch so oft seine Unschuld beteuern, bei Gott schwören, er habe das Gitter nicht durchgesägt und habe auch nicht die geringste Ahnung, wer es getan haben könnte — da wird nicht lange gefackelt! Ein Fluchtversuch wird hart bestraft! Eine halbe Stunde später wird Raymond Latour — R. L. — in die von allen Häftlingen so gefürchtete Dunkelzelle verbannt.
    Allerdings kann sich niemand im Gefängnis das seltsame Verhalten des jungen Sträflings erklären. Er saß zwar in Einzelhaft im Bau der Kapitalverbrecher, aber er war nicht zum Tode verurteilt. 1979 wird zwar in Frankreich noch geköpft, aber nur ganz selten. Die Gefängnisse sind jedoch so überfüllt, daß die Verwaltung sich den Luxus nicht leisten kann, Zellen sozusagen unbewohnt zu lassen. Nur deswegen saß der 19jährige Latour ein Jahr lang in Zelle 341. Zwei Wochen nach dem mysteriösen Fluchtversuch sollte er sowieso wegen guter Führung in das Hauptgebäude verlegt werden. Nur noch drei Monate, und dann wäre er frei gewesen! Welcher Teufel mag ihn geritten haben, so eine Dummheit zu begehen? So kurz vor seiner Freilassung?
    Nach einer Woche Dunkelhaft kommt Raymond Latour wieder in die Zelle 341. In der Zwischenzeit ist das Fenster mit einer Metallplatte gesichert worden, und das Licht dringt nur noch durch einen engen Schlitz herein. Tagsüber liegt er nun völlig apathisch auf seiner Pritsche
    - er ist nur noch ein Schatten seiner selbst. Früher — vor dem unbegreiflichen Fluchtversuch — da hat er noch mit den Wärtern gesprochen, aber jetzt? Kein Wort mehr. Nichts. Wozu auch? Es glaubt ihm sowieso niemand! Außerdem, er ist am Ende seiner Kräfte, denn nachts findet er keinen ruhigen Schlaf mehr. Die schrecklichen Anfälle wiederholen sich immer häufiger und immer heftiger.
    Aber so leicht macht man keinem Wärter was vor — Anfälle vortäuschen, das ist ein alter Trick in allen Gefängnissen der Welt — und er zieht nur selten!
    Der alte Laperre hat Mitleid mit dem Jungen. Wie alle anderen ist er zwar auch davon überzeugt, daß er simuliert, aber er versucht trotzdem, ihn aufzumuntern und vor allem zur Vernunft zu bringen:
    »Mensch, Junge, hör doch auf mit dem Theater! Du machst alles nur noch schlimmer dadurch! Du machst dich völlig fertig — und uns alle auch!«
    Aber es hilft nichts. Jede Nacht verwandelt sich Raymond Latour in eine tobsüchtige Kreatur. Drei Monate lang — bis zum Tag seiner Freilassung.
    An diesem Tag muß er noch die unvermeidliche Moralpredigt des Direktors über sich ergehen lassen. Sie ist schnell gehalten:
    »Kopf hoch, Junge, du mußt jetzt erstmal Arbeit finden, das ist das Wichtigste. Der Rest kommt dann von ganz allein! Mach’s gut — und auf Nimmerwiedersehen! Will ich hoffen!«
    Raymond antwortet mit einem kleinlauten »Ja, Herr Direktor«, verabschiedet sich und geht zur Tür. Er steht schon fast im Gang, als er sich plötzlich ganz aufgeregt noch einmal umdreht:
    »Was ich noch sagen wollte, Sie müssen es mir glauben, Herr Direktor! Warum sollte ich jetzt noch lügen? Ich weiß wirklich nicht, was jede Nacht mit mir los war! Ich konnte nichts

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