Der 1. Mord - Roman
sei.
»Joanna?«, fragte er amüsiert lächelnd. »Schlechte Menschenkenntnis, Inspector, aber noch schlechteres Timing.« Er erklärte mir, dass ihre Scheidung erst sechs Monate vor dem Erscheinen von Fadenkreuz rechtskräftig geworden war. Von dem Buch wurden allein im Hardcover fast eine Million Exemplare verkauft. »Da hat sie es die ganzen Hungerjahre mit Nicholas ausgehalten und wurde mit kaum mehr als dem Fahrgeld für ein Taxi abgespeist«, erklärte er kopfschüttelnd. »Die Abfindung war ein Almosen, verglichen mit dem, was sie bekommen hätte, wenn sie ein Jahr später geschieden worden wären.«
Was Marks mir erzählte, zeichnete ein ganz anderes Bild von der Frau, die ich im Fitness-Studio kennen gelernt hatte. Die schien alles hinter sich gelassen zu haben.
»Sie fühlte sich ausgenutzt, fallen gelassen wie ein alter Koffer. Joanna hatte ihm das Studium ermöglicht und sogar ihren
alten Job wieder aufgenommen, als er das Jurastudium an den Nagel gehängt und angefangen hat zu schreiben.«
»Und danach?«, fragte ich. »Hat sie ihn immer noch gehasst?«
»Ich glaube, sie hat versucht, ihn zu verklagen. Nachdem sie sich getrennt hatten, wollte sie sich ein Sicherungspfandrecht auf zukünftige Einnahmen zusprechen lassen. Nichterfüllung. Vertragsbruch. Alles, was ihr einfiel.«
Mir tat Joanna Wade Leid. Aber war sie zu so einer Rache fähig? Hatte der Hass sie so weit getrieben, sechs Menschen zu töten?
Am nächsten Tag holte ich mir eine Kopie der Scheidungsakten vom Bezirksgericht. Durch den üblichen Hickhack hindurch spürte ich, dass es ein besonders bitterer Fall war. Sie hatte Jenks auf drei Millionen Dollar seiner künftigen Einnahmen verklagt. Am Schluss waren ihr fünftausend pro Monat zugesprochen worden, mit möglicher Steigerung auf zehn, falls Jenks’ Einnahmen bedeutend zunahmen.
Ich konnte nicht fassen, was für eine bizarre Veränderung in meinem Kopf Wurzeln zu schlagen begann.
Joanna war diejenige gewesen, die als Erste auf das Buch hingewiesen hatte. Die sich betrogen gefühlt hatte, verschmäht. Sie trug einen Hass in sich, der weit größer war, als sie preisgegeben hatte. Joanna, die Tae-Bo-Lehrerin, die kräftig genug war, um mit einem Mann fertig zu werden, der doppelt so groß war wie sie. Die mich über ihre Beziehung zu Chessy belogen hatte. Die sogar Zugang zu Jenks’ Haus hatte.
Diese Gedanken schienen verrückt. Eigentlich grotesk… es war unmöglich.
Die Morde waren von einem Mann begangen worden. Von Nicholas Jenks.
105
Am nächsten Tag aßen Chris und ich einen Hotdog und eine Brezel vor dem Rathaus. Ich erzählte ihm von meinen Überlegungen.
Er schaute mich ganz ähnlich an wie die Mädels vor einigen Tagen. Schock, Verwirrung, Unglaube. Doch er reagierte nicht negativ.
»Sie könnte die ganze Sache geplant haben«, sagte ich. »Sie kannte das Buch. Sie hat es ausgegraben, damit wir es finden sollten. Sie kannte Jenks’ Geschmack - in Sachen Champagner, in Sachen Kleidung. Sie wusste von seiner Beteiligung an Sparrow Ridge. Sie hatte sogar Zugang zu seinem Haus.«
»Das könnte ich akzeptieren«, meinte er. »Aber die Morde wurden von einem Mann begangen. Von Jenks, Lindsay. Wir haben ihn sogar auf Film.«
»Oder jemanden, der so zurechtgemacht war, dass er wie Jenks aussah. Kein Augenzeugenbericht ist wirklich überzeugend.«
»Lindsay, die DNS war identisch.«
»Ich habe mit den Polizisten gesprochen, die damals ins Haus kamen, als er Joanna zusammengeschlagen hat.« Ich ließ nicht locker. »Sie sagten, Jenks sei außer sich gewesen, aber sie sei gleich stark gewesen und hätte ihm tüchtig Kontra gegeben. Sie haben sie bändigen müssen, als sie ihn ins Auto schafften.«
»Sie hat die Anzeige zurückgezogen, Lindsay. Sie hatte es satt, misshandelt zu werden. Vielleicht hat sie nicht bekommen, was sie verdiente, aber sie hat die Scheidung eingereicht und ein neues Leben begonnen.«
»Das ist es ja gerade, Chris. Sie hat die Scheidung nicht eingereicht. Jenks hat sie verlassen. Sein Agent, Greg Marks, hat mir das gesagt. Sie hat alles für ihn geopfert. Er hat sie als den klassischen Fall von Abhängigkeit beschrieben.«
Ich sah, dass Chris nicht überzeugt war. Ich hatte einen Mann im Gefängnis, mit beinahe unstrittigen Beweisen gegen ihn.
Und jetzt kam ich und trennte alles wieder auf. Was war los mit mir?
Dann fiel mir aus heiterem Himmel noch etwas ein, das ich im Geist längst zu den Akten gelegt hatte. Laurie Birnbaum, ein Gast der
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