Der 13. Brief
versuchen, die Wahrheit zu sagen.
Oder zumindest etwas, was der Wahrheit sehr ähnlich sah.
»Ich hatte einen schlimmen Krach mit Lena«, gestand ich. »Ich glaube, sie wird nie wieder mit mir sprechen, und das mit Recht.«
Bevor Franzi weiterfragen konnte, wurde es plötzlich still in der Klasse. Dabei hatte es noch gar nicht zum Schulbeginn geklingelt. Erstaunt sahen auch wir auf.
Direktor Frevert trat nach vorn ans Pult, gefolgt von – Friedrich Ahrend!
Verblüfft ließ ich mich auf meinen Stuhl sinken.
»Meine lieben Schülerinnen und Schüler«, begann der Direktor förmlich und wischte sich leicht nervös über die Stirnglatze. Allmählich schienen die Ereignisse an seiner Schule auch ihm die Gelassenheit zu rauben.
»Der Kollege Dittmer wird seinen Unterricht bis auf Weiteres nicht durchführen können. Deshalb übernimmt die Kollegin Lehnert den Deutschunterricht, Herr Ahrend ist für Französisch zuständig.«
Ach ja, Eva Ahrends Vater unterrichtete ja auch Französisch. Französisch, Sport und Geschichte, wenn ich mich richtig erinnerte.
»Das ist ja der Hammer!«, zischte Franzi neben mir. »Ahrend unterrichtet wieder! Wie können die Ahrend ausgerechnet in unsere Klasse schicken?«
Das fragte ich mich auch. Wie konnte Frevert Ahrend ausgerechnet in der Klasse unterrichten lassen, in die seine tote Tochter gegangen war?
Frevert wechselte noch ein paar leise Worte mit Ahrend. Dann schob der hochgewachsene, kräftige Mann den kleinen Direktor energisch aus dem Raum.
Als Ahrend die Tür geschlossen hatte, straffte er die breiten Schultern und richtete seinen sportlichen Körper auf. Mit langen Schritten ging er an den Tischen vorbei nach vorn zum Pult. Ich sah, wie die Muskeln an seinem kantigen Kinn verkrampften.
Er würde das durchziehen, kein Zweifel. Genauso fest entschlossen, wie er seine Familie nach der Katastrophe zusammengehalten hatte, nahm er jetzt seine Arbeit wieder auf.
Noch immer war es totenstill im Raum.
Ahrend stellte seinen Aktenkoffer auf das Pult und öffnete ihn. Er legte zwei Bücher, einen Block und zwei Stifte auf den Tisch, dann baute er sich steif vor der Klasse auf.
Seine flinken Augen flitzten durch den Raum.
An mir blieb sein Blick hängen. Er hatte mich erkannt.
Doch wenn er sich darüber wunderte, ließ er sich nichts anmerken. Er stellte die Füße so dicht nebeneinander wie ein Kadett, dem man ›Stillgestanden‹ zugebrüllt hatte, und sagte: »Guten Morgen allerseits! Zettel raus, Name drauf, Vokabeltest!«
Die Klasse zuckte zurück, als hätte Ahrend allen eine kollektive Ohrfeige verpasst.
»Welchen Teil hast du nicht verstanden, Sinja?«, donnerte er das Mädchen in der zweiten Reihe an.
Ich stutzte einen Moment darüber, dass er es fertiggebracht hatte, den richtigen Namen zu nennen. Dann fiel mir ein, dass er sie ja vom Schwimmtraining kannte.
»Jede Vokabel, die ihr nicht aufschreibt, bedeutet selbstverständlich einen Fehler! Deshalb schlage ich vor, ihr nehmt eure Zettel heraus.«
Als sie begriffen, dass er es ernst meinte, kam Bewegung in die Schüler. Eilig zückten sie ihre Federhalter.
Ahrend diktierte die erste Vokabel und mir fiel auf, dass die Tintenpatrone meines Füllers leer war. Doch ich hatte es mit dem Auswechseln nicht eilig, denn es würde sowieso an ein Wunder grenzen, wenn ich auch nur eines der französischen Wörter richtig aufschrieb. Deshalb versuchte ich es gar nicht erst.
Als Ahrend eine Viertelstunde später die Zettel einsammelte, gab ich ihm ein leeres Blatt mit meinem Namen darauf.
Er musterte den Zettel kurz, dann mich etwas länger.
»Ich wundere mich etwas, dich hier zu treffen, Lila«, gab er zu. »Was treibt dich her?«
»Die Arbeit«, erklärte ich knapp.
Er zog die Brauen hoch.
Franzi warf mir einen fragenden Blick zu, doch Ahrend kommandierte bereits: »Schlagt eure Bücher auf Seite 225 auf! Ihr seht Nummer eins, den Text Marie Antoinette. Zu eurem Glück haben wir eine Doppelstunde, ihr habt genug Zeit, den ganzen Abschnitt zu übersetzen. Bis ihr fertig seid, werde ich eure Vokabeltests benotet haben. Fangt an, der Text ist nicht kurz.«
Murrend senkten die Schüler ihre Köpfe und begannen zu schreiben.
Ich lehnte mich zurück und drehte den dicken, abgekauten Plastikschaft meines Federhalters zwischen den Fingern. In dem ganzen Text gab es ein einziges Wort, das ich verstand: roi – König. Es kam sechsundzwanzig Mal vor und half mir nicht im Geringsten weiter.
Ich sah zu, wie Ahrend die
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