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Der 13. Brief

Titel: Der 13. Brief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucie Klassen
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Vokabeltests korrigierte. Er saß steif, angespannt. Er war fest entschlossen, wieder ein normales Leben zu führen, obwohl es kein normales Leben mehr gab.
    Er zwang sein Leben dazu, weiterzufunktionieren, genau, wie er sich selbst zwang zu funktionieren!
    Er ließ nicht zu, dass seine Frau in die Psychiatrie eingewiesen wurde, obwohl sie dort hingehörte.
    Seine Kinder spielten weiter Klavier, mitten in dem Scherbenhaufen, der einmal ihre Familie gewesen war.
    Er selbst stellte sich vor Evas Klasse und machte seinen Job.
    Nachdenklich beobachtete ich, wie seine Wangenmuskeln zuckten, weil er seine Kiefer so fest aufeinanderpresste.
    Als hätte er meinen Blick gespürt, hob er die Augen von den Zetteln und sah mich an. Seine Miene wirkte lauernd.
    Ich senkte den Blick auf den Federhalter in meinen Händen und fing an, ihn auseinander- und wieder zusammenzuschrauben.
    Als eine Dreiviertelstunde vergangen war, ließ Ahrend das Ergebnis der Übersetzungen vorlesen. Jeder einen Satz.
    Die erste Reihe hatte herausgefunden, dass vor ein paar Jahrhunderten ein vierzehnjähriges, österreichisches Mädchen namens Maria Antonia den späteren König von Frankreich geheiratet hatte. Bei Lena in der zweiten Reihe kam die Geschichte ins Stocken, offensichtlich hatte Lena nicht viel mehr über das Schicksal von Maria Antonia nachgedacht als ich.
    »Und was glaubst du, was da steht, Karoline?«, ließ Ahrend Lena nach ein paar langen Sekunden peinlichen Schweigens in Ruhe.
    Karo übersetzte fehlerfrei.
    So ging es weiter, Maria Antonia lebte am französischen Hof im Überfluss, bis die Revolution ausbrach. Die Königin wurde verhaftet, ins Gefängnis geworfen und zum Tode verurteilt.
    Der letzte Satz blieb für mich übrig.
    Ich hörte auf, an meinem Federhalter zu kauen.
    »Und, Lila, verrätst du uns das Ende der Geschichte?«, erkundigte sich Ahrend, als hätte er das leere Blatt, vor dem ich saß, nicht längst gesehen.
    Ich überlegte. »Marie Antoinettes lesbische Geliebte versucht, die Hinrichtung zu verhindern, und wird noch vor der Königin selbst geköpft.«
    Ahrend musterte mich. »Geschichtlich interessant, aber französisch mangelhaft. Kannst du uns eine weniger frei interpretierte Übersetzung liefern, Franziska?«
    Während Franzi zu stottern begann, verteilte Ahrend die korrigierten Vokabeltests.
    Die Doppelstunde war beinahe um, ich packte meinen Block schon mal ein. Die dicke, rote Sechs, die auf dem leeren Zettel mit meinem Namen stand, erstaunte mich nicht besonders.
    »Darüber will ich noch mal mit dir sprechen, Lila!«, ließ mich Ahrend wissen, während auch Franzis Test auf den Tisch flatterte. »Bleib nach der Stunde bitte hier!«
    Aha?
    Ich faltete den Zettel und steckte ihn zusammen mit meinem Füller in die Hosentasche.
    »Heute hat sich übrigens keiner mit Ruhm bekleckert!«, tadelte Ahrend weiter. »Das sind keine Lücken in eurem Vokabelschatz, das sind schwarze Löcher, die jede Materie an sich ziehen und verschlucken!«
    Ich tauschte einen Blick mit Franzi. Auch ihr Test schien nicht gerade fehlerfrei, Ahrends Schrift leuchtete rot auf ihrem Zettel.
    Ich stutzte.
    »Kann ich mal sehen?« Ich nahm Franzi den Test aus der Hand.
    3–! Wäre der Durchschnitt der Klasse nicht derartig miserabel, hätte ich Dir eine 5 gegeben, Franziska!, las ich.
    »Französisch war noch nie meine Stärke«, verteidigte sich Franzi.
    Das Blatt Papier in meiner Hand begann plötzlich so stark zu zittern, dass ich Ahrends kleine, nach rechts geneigte Handschrift kaum noch entziffern konnte. Doch was ich nicht übersehen konnte, waren die Anfangsbuchstaben der Wörter: Im Verhältnis zur restlichen Schrift erschienen sie übergroß.
    Erschrocken sah ich auf.
    Ahrend beobachtete mich – als hätte er nur darauf gewartet. Und das hatte er wirklich, begriff ich!
    Schnell schaute ich wieder weg, aber es war zu spät. Ich wusste, ich hatte mich verraten.
    Mein Herzschlag setzte aus!
    Ich merkte, dass Unruhe im Raum entstand. Und dass Franzi auf ihren Test wartete. Automatisch gab ich ihr den Zettel zurück. Jetzt nur nicht die Nerven verlieren!
    Ich packte meine Jacke und meinen Rucksack und sprang auf. Meine Knie wackelten, als hätte mich Danner zwei Stunden lang durch das Stadion gejagt.
    Danner!
    Er hatte Sport, drüben in der Halle. Ich musste ihn erwischen!
    »Du denkst an unser Gespräch, Lila?« Ahrends donnernde Stimme übertönte mühelos das Aufbruchsgetöse im Raum. Ich fuhr herum. Ahrend hatte sich vom

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