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Der 13. Brief

Titel: Der 13. Brief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucie Klassen
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Armpolster in die richtige Position bringen konnte.
    »Fertig?«, erkundigte ich mich betont lässig.
    »Sicher.«
    Ich zog das rechte Bein nach vorn und trat probeweise mit halber Kraft mein Schienbein ins Kissen.
    Danner parierte, ohne eine Miene zu verziehen.
    Ich wiederholte den Tritt ein paarmal. Erst langsam, dann, als ich merkte, dass Danner nicht zurückwich, schneller.
    Knie hoch, Kick nach vorn, Fuß hinten wieder absetzen.
    Diese Bewegung hatte ich so oft trainiert, dass ich sie sogar automatisch durchführte, wenn man mich um Mitternacht aus dem Tiefschlaf riss. Seit ich denken konnte, hatte ich gegen Dinge getreten. Erst gegen Schränke, Türen, Hauswände, Straßenlaternen, dann beim Karate gegen Sandsäcke, Sparringpolster und schließlich gegen die Beine der Gegner. Meine Schienbeine waren von dem ständigen Zutreten mittlerweile so hart, dass ich nur noch selten blaue Flecke bekam.
    Ich spürte, wie der Schweiß meine Nackenhaare kringelte.
    »Ganz nett«, stichelte Danner. »Mehr ist nicht drin?«
    Blitzschnell trat ich wieder zu und hätte er nicht genauso blitzschnell die Deckung hochgerissen, hätte ich mir das Geld für die Schwangerschaftsverhütung sparen können.
    Aber er hatte den Kick nicht parieren können, ohne einen Schritt nach hinten zu machen.
    »Okay, nicht schlecht«, gab er zu. »Was ist das? Kickboxen?«
    »Karate.«
    »Ehrlich? Ich meine: Wirklich ehrlich?«
    »Ungelogen.«
    »Welcher Gürtel?«
    »Blau.«
    Kommentarlos wechselte er die Polster auf die andere Seite und ich begann, mit dem linken Bein zuzutreten.
    Diesmal ließ ich ihm keine Zeit, sich auf meine Tritte einzustellen. Ich begann mit einer härteren Trittfolge, und als ich bemerkte, dass er seinen Stand korrigieren musste, trat ich schnell noch einmal nach. Er landete rückwärts auf dem Sofa.
    »Verdammter Mist!«, lachte er und schleuderte eines der Armpolster in meine Richtung.
    Ich duckte mich und es schepperte in das Bücherregal. Drei Akten kippten um, eine vierte geriet ins Rutschen, krachte zu Boden und eine Wolke aus Papier wirbelte durchs Zimmer.
    Jetzt musste auch ich lachen und ließ mich neben Danner aufs Sofa fallen. Ich spürte seinen Oberarm heiß an meiner Seite und warf einen Blick auf seinen Brustkorb, der sich in raschem Rhythmus hob und senkte.
    »Und? Willst du weiter deprimiert im Bett liegen oder bist du jetzt in der Lage, irgendwas zu unternehmen?«, erkundigte sich Danner.
    Ich wischte mir mit seinem T-Shirt den Schweiß aus dem Gesicht: »Ich unternehme was, schätze ich.«
    »Und was?«
    Ich kratzte mich am Kopf: »Was bei Depressionen immer hilft: Haare tönen, Beine rasieren und für mindestens zweihundert Euro Klamotten kaufen.«
    Danner zog eine Augenbraue hoch.
    »Und morgen gehe ich zur Schule«, seufzte ich.

45.
    Als ich am nächsten Morgen um zehn vor acht vorm Sprachlabor stand, war mir übel. Ich fühlte mich schlechter als an jedem anderen ersten Schultag in meinem Leben. Und das lag nicht an meinem Outfit – obwohl ein überlanger Wollrolli mit aufgenähten lila Blüten den Schulalltag erfahrungsgemäß nicht leichter machte.
    Meine Haare hatte ich allerdings nicht getönt. Irgendwie hatte ich mich inzwischen an mein Naturblond gewöhnt.
    Der Einfachheit halber war ich mit Danner hergefahren, denn unsere Tarnung war nicht mehr von Bedeutung.
    Karo musterte abschätzend meinen extravaganten Aufzug, als ich entschlossen auf sie zuging und meinen Rucksack auf den Tisch stellte.
    Franzi blinzelte verwirrt.
    Lena wandte sich wortlos ab und schlenderte zu ihrem eigenen Platz nach vorn.
    »Sag mal, drehst du durch, oder was?«, fuhr mich Karo an. »Du hast Freitag ja schon wieder geschwänzt! Und weißt du eigentlich, wie du aussiehst?«
    Hatte Lena nichts erzählt?
    Ich musterte Lena prüfend, doch sie starrte verbissen in Richtung Tafel, obwohl der Unterricht noch gar nicht begonnen hatte.
    »Pack dich mal an die eigene Nase, Karo!«, kam Franzi mir zu meinem Erstaunen zu Hilfe. »Weißt du, was ich glaube? Es stinkt dir, dass du nicht mehr die Verrückteste von uns bist!«
    Karo sah wütend auf ihre kleine, dicke Freundin hinunter: »Na, dann setz du dich doch neben die Verrückte.« Sie schnappte ihre Tasche, ging nach vorn zu Lena und warf Franzis Rucksack nach hinten. Er landete polternd vor unseren Füßen.
    Seufzend ließ sich Franzi auf Karos Platz fallen: »Kannst du mir mal verraten, was los ist?«
    Wenn ich hier noch irgendwas retten wollte, sollte ich vielleicht

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