Der 13. Brief
Die Wunder der Technik. Von außen sind die Türen immer verschlossen, von innen immer auf. So kann niemand eingeschlossen werden und ohne den Coin kann niemand rein, um unseren ausgestopften Dachs mitgehen zu lassen.«
Noch besser, dachte ich. Wenn ich mich umbringen wollte, brauchte ich also nur zu warten, bis der Letzte raus war, und die Tür zumachen. Dann konnte ich in Ruhe überlegen, ob ich wirklich springen wollte, ohne dass noch einmal jemand hereinkommen würde.
Interessant.
Ohne Eile schlenderte ich durch die langen Flure.
Jetzt klingelte es zum Schulschluss und wie auf Kommando flogen um mich herum die Türen auf. Lachen, Kreischen und Plappern füllten die Gänge wie eine hereinstürzende Flut. Die Schüler strömten um mich herum und an mir vorbei. Jeder kannte seinen Weg. Jeder wusste, mit wem er zum Bus ging und mit wem nicht.
Mich wunderte mal wieder, wie unsichtbar ich selbst zwischen all den Menschen war. Ich konnte mitten hindurchgehen, geradeaus, ohne gesehen, gehört oder berührt zu werden.
Wie mein eigener Geist.
Gruselig.
Ich schob den langen Ärmel meines Rollis ein Stück hoch, bohrte meinen Daumennagel in meinen Unterarm und ritzte eine schmerzhafte rote Linie hinein, nur um sicherzugehen, dass ich noch existierte.
Es regnete immer noch, als ich aus dem Gebäude trat.
Danner hatte nicht auf mich gewartet, denn ich wollte nicht riskieren, im Auto meines Lehrers gesehen zu werden.
Lena lehnte an dem hohen Stahlzaun, der das Schulgelände umgab, die Kapuze ins Gesicht gezogen. Ich ging die drei Stufen auf den Gehweg hinunter und stellte mich neben sie.
»Wirst du abgeholt?«
»Meine Mutter arbeitet bis eins. Vor halb zwei ist sie nie hier.«
Also noch etwas Zeit für ein bisschen Detektivarbeit.
»Um die Ecke hab ich heute Morgen ein Bistro gesehen. Ich hab Kohle dabei.«
»Okay.«
Lena hakte sich wieder bei mir unter, doch diesmal war ich nicht völlig überrumpelt.
Kurz darauf saßen wir uns im Trockenen gegenüber. Der Laden hatte Imbissatmosphäre, Plastiktische und aus dem Radio 1LIVE im Hintergrund.
»Latte macchiato«, bestellte Lena.
»Tee«, sagte ich zu einem Kellner, der heute Morgen noch mehr Zeit im Badezimmer verbracht haben musste als ich. »Schwarz ist in Ordnung, wenn du keinen Roibosch hast. Mit einer kompletten Zitrone, wenn’s geht – in Scheiben natürlich. Dafür kannst du den Zucker weglassen.«
Lena musste lachen: »Wie bitte?«
»Tee, schwarz oder Roibosch mit viel Zitrone und ohne Zucker«, wiederholte ich und Lena hörte nicht auf zu lachen.
Sie war wirklich hübsch. Stascheks Kastanienhaar fiel ihr weich über die Schultern und seine braunen Augen strahlten, wenn sie lachte. Ihr schmales Gesicht erinnerte sogar jetzt im Spätherbst noch an die Sommerbräune, die es ohne Zweifel beim ersten Sonnenstrahl im Frühjahr wieder annehmen würde.
Lena musterte mich einen Moment lang ebenso interessiert.
»Ich wollte dich schon die ganze Zeit nach deinem Freundschaftsband fragen«, sagte sie dann unvermittelt.
Oh.
Es war ihr aufgefallen, obwohl ich den ganzen Tag sorgfältig darauf geachtet hatte, es in meinem Ärmel zu verbergen. Sie hatte den Köder geschluckt, noch bevor ich damit geangelt hatte! Konnte ich wirklich so brutal sein und ihn benutzen?
Ich fummelte im Ärmel meines Pullovers nach dem Band, ohne es hervorzuholen: »Ist von ’ner Freundin.«
Lena legte den Kopf schief: »Warum seid ihr aus Hannover weggezogen?«
»Meine Mutter hat hier einen Job gekriegt. Nach der Scheidung hat sie lange gesucht.«
Lena deutete mit einem Nicken auf meinen Arm: »Na ja, es gibt ja Handys. Und am Wochenende kannst du sicher bei deiner Freundin pennen.«
Der aufgebrezelte Kellner stellte uns mit einem freundlichen Lächeln die Tassen hin.
Mein Gewissen flehte mich an, es bleiben zu lassen.
»Wir werden nicht telefonieren«, murmelte ich, denn ich hörte nie auf mein Gewissen. »Sie ist tot.«
Lenas Löffel klatschte spritzend in ihren Latte macchiato.
»Man hat sie in ihrem Bett gefunden mit ’ner Nadel im Arm.«
Lena starrte mich an.
Erstaunlicherweise musste ich schlucken, um weitersprechen zu können: »Eigentlich war sie gar nicht mehr meine beste Freundin, glaube ich. Wir haben fast ein Jahr nicht miteinander gesprochen. Seit sie mit diesem Idioten ging – ich verstehe nicht, wie man sich von einem Typen poppen lassen kann, der sich selbst ›Schädel‹ nennt! Aber ich dachte, sie checkt irgendwann, dass er ’n asozialer Junkie
Weitere Kostenlose Bücher