Der 13. Brief
Glatze und einer dünnen Brille auf der schnabelähnlichen Nase. Vor dem Mann standen zwei leere Gläser und eine Flasche Whisky. Glenfiddich, der fünfzehn Jahre alte in der goldenen Flasche, den auch mein Vater bevorzugte.
»Mein Freund, Dr. Johannes Darmierzel«, stellte Ahrend den Fremden vor. »Er behandelt meine Frau. Johannes, das ist Herr Danner, der Detektiv, von dem ich dir erzählt habe, und seine Mitarbeiterin Frau –?«
»Ziegler«, half ich weiter.
Der Dünne nickte uns zu.
»Geht es Ihrer Frau besser?«, erkundigte sich Danner.
Ahrend schüttelte den Kopf. Im Tageslicht des Wohnzimmers wirkte sein Gesicht plötzlich grau. »Sie ist seit Tagen nicht aufgestanden und sie isst nur, was ich ihr in den Mund stecke«, berichtete er müde.
»Sie befindet sich noch immer in einer depressiven Krise«, sprach der Arzt für ihn weiter und sank noch etwas mehr in sich zusammen, so als stünde seine eigene Depression kurz bevor. »Wenn sich ihr Zustand nicht ändert, werden wir sie in stationäre psychiatrische Behandlung geben müssen.«
»Nein! Das haben wir bereits besprochen, Johannes!« Für einen Augenblick war Ahrends müde Stimme lauter geworden. Sie hatte einen Unterton, der an einen entfernten Donner erinnerte. Ich ahnte plötzlich, dass der Mann sich auch in einer Schwimmhalle, in der das Wasser gegen den Beckenrand klatschte, der Überfluss rauschte und die Schüler durcheinanderkreischten, verständlich machen konnte.
»Das ist das Letzte, was ihr hilft!« Schon bekam Ahrends Stimme wieder Risse, wurde brüchig und begann zu bröckeln. »Hier kann ich mich um sie kümmern, hier hat sie die Kinder, die vertraute Umgebung. Wir schaffen das, alle zusammen. Wir schaffen das.« Er wiederholte die Worte wie ein magisches Mantra.
»Und was machst du, wenn du wieder in die Schule gehst?«, versuchte Darmierzel es noch mal vorsichtig. »Du kannst nicht ewig zu Hause bleiben, Friedrich!«
Für einen Moment fiel Ahrends große Gestalt zusammen.
»Leidet Ihre Frau schon länger unter Depressionen, Herr Ahrend?«, mischte sich Danner ein.
Ahrend richtete sich wieder auf: »Wieso ist das wichtig?«
Hatte man ihm das nicht gesagt? Hatte die Polizei ihn noch nicht nach den Medikamenten gefragt?
»Man hat die Wirkstoffe mehrerer Medikamente im Blut Ihrer Tochter gefunden«, klärte Danner ihn auf.
»Medikamente?« Ahrend sah Danner verständnislos an. »Eva hatte eine Woche vor – bevor es passiert ist, eine Grippe. Sie war krankgeschrieben und hat Antibiotika genommen, das habe ich doch alles schon gesagt!«
»Aber im Blut hatte sie Beruhigungsmittel und Antidepressiva«, erklärte Danner ruhig. »Und zwar in so hoher Dosis, dass die Polizei eine Abhängigkeit in Betracht zieht.«
»Was?«, brauste Ahrend auf. »So ein Quatsch! Eva war Leistungssportlerin! Sie wusste genau, dass sie nicht einfach irgendeinen Mist nehmen konnte! Und ihr Blut ist bei den Meisterschaften im Juli noch auf Doping kontrolliert worden!«
Das schloss eine längere Abhängigkeit ziemlich sicher aus.
»Hat die Polizei Sie noch nicht auf die Medikamente angesprochen?«, erkundigte sich Danner.
»Herr Ahrend war letzte Woche ebenfalls nicht vernehmungsfähig«, antwortete Darmierzel für ihn.
Ahrend stützte den Kopf in die Hände und raufte sich die Haare. »Das kann doch alles nicht sein!«
»Können Sie uns die Namen der Medikamente Ihrer Frau nennen?« Danner stellte die Frage dem Lehrer und dem Arzt gleichzeitig.
» Tofranil und Saroten, das sind beruhigend wirkende, trizyklische Antidepressiva«, erläuterte Darmierzel.
Die Namen aus dem Autopsiebericht.
»Und die hatten Sie vor Evas Tod bereits im Haus?«
Ahrend nickte: »Christa nimmt das Zeug seit Jahren. Natürlich wissen die Kinder davon, sie sind ja keine Dreijährigen mehr. Sie glauben doch nicht, dass Eva Christas Medikamente genommen hat?«
»Ich gehe davon aus«, bejahte Danner unbarmherzig.
Der riesige, breitschultrige Mann erinnerte plötzlich an ein Kind, das darauf wartete, dass man ihm sagte, alles würde wieder gut werden. »Wieso sollte sie das getan haben?«
Um sich umzubringen!, dachte ich, sagte es aber nicht laut, denn offensichtlich wollte Ahrend es nicht hören. Für mich sah das alles eindeutig nach einem Selbstmord aus. Erst hatte Eva es mit Medikamenten probiert, und als das nicht klappte, war sie aus dem Fenster gesprungen. Das war nur konsequent.
Niemand sprach weiter. Die Stille füllte den Raum wie ein lang anhaltender Schrei.
Weitere Kostenlose Bücher