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Der 13. Brief

Titel: Der 13. Brief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucie Klassen
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ich mir gut vorstellen.
    Lena sagte nichts.
    Karo steckte sich eine Zigarette an und hielt mir die Schachtel hin: »Rauchst du eine mit?«
    Ich winkte ab: »Tut mir leid, ich versuche aufzuhören.« Eigentlich hatte ich schon mit zwölf aufgehört.
    Karo nickte verständnisvoll.
    Außerdem hätte es sich sowieso nicht gelohnt, das Angebot anzunehmen, denn es dauerte nicht einmal zehn Sekunden, bis Danner Karo die Kippe aus dem Mund nahm wie einer Fünfjährigen den Lolli.
    Und Karo reagierte wie eine Fünfjährige: »Ey, du Arsch! Ich bin sechzehn! Ich kann so viel rauchen, wie ich will!«
    »Nur, wenn du dich nicht erwischen lässt, Karoline! Hier herrscht Rauchverbot«, korrigierte Danner. »Und für den ›Arsch‹ läufst du morgen früh im Stadion tausend Extrameter – deine Tage hattest du ja letzte Woche, glaub nicht, ich hätte das vergessen!«
    »Wichser«, zischte Karo, aber erst, nachdem Danner sich schon abgewandt hatte.
    Trotzdem hob er die Hand und sagte, ohne sich umzusehen: »Zweitausend!«
    »Mieser Tyrann!«, beschwerte sich Franzi vorsichtig, als Danner sie nun wirklich nicht mehr hören konnte.
    »Ach, halt die Klappe!«, fuhr Karo sie an.
    »Du solltest dir das von dem nicht gefallen lassen!«, stimmte Lena Franzi zu.
    Offensichtlich hatte Lena nichts dagegen, Danner das Leben ein bisschen schwer zu machen. Seltsam, denn eigentlich müsste sie doch hoffen, dass er etwas über Eva Ahrends Tod herausfand. Schließlich war sie ihre beste Freundin gewesen.
    Oder?

17.
    Die letzten beiden Stunden – Physik und Biologie – vergingen schneller. Für beide Unterrichtsfächer mussten wir den Klassenraum verlassen. Die Klassenräume lagen im Hauptgebäude der Schule, dem größten und ältesten der vier Betonklötze, aus denen sich der Komplex zusammensetzte. Die anderen drei Kästen nannten sich Naturwissenschafts-Turm, Kunst-Turm und Sprach-Turm, weil sie die jeweiligen Fachräume beherbergten.
    In Physik führte eine nervöse Referendarin einen Versuch mit Eisenspänen und einem selbst gebastelten Elektromagneten vor, der nicht gelang.
    In Biologie ging es mal wieder um die Evolution. Der dicke Bärtige hinter dem Lehrerpult wirkte selbst wie ein Neandertaler, der, in einem Eisblock eingeschlossen, bis heute überlebt hatte. Wahrscheinlich sah er älter aus, als er war, was mit seinem struppigen, grauen Bart zusammenhing, den er wohl seit dem Ende der letzten Eiszeit nicht mehr geschnitten hatte. Der Steinzeitmensch hieß Morgenroth. Nach einer seiner Biologiestunden war Eva Ahrend aus dem Fenster gesprungen.
    Was mich also mehr interessierte als Darwins Finkentheorie (die ich schon in der zehnten, in der zwölften und im mündlichen Abi so lange durchgekaut hatte, bis nur noch Mus mit Federn übrig geblieben war), war der Biologieraum selbst.
    Der Raum befand sich im fünften Stock des Naturwissenschafts-Turms. Der Tisch, an dem ich neben Karo saß, stand in der letzten Reihe am Fenster. Ich konnte direkt in die blattlosen Äste der drei Linden hinübersehen.
    Tief unten glänzte nass der Asphalt des leeren Schulhofes. Die Fenster waren groß und hoch, von den Rahmen blätterte metallfarbenes Plastik ab und auf der breiten Fensterbank konnte man problemlos stehen.
    Schiebefenster: den Hebel umlegen, aufdrücken, fertig.
    Darüber dachte ich noch nach, als Morgenroth den Unterricht fünf Minuten zu früh beendete. Ich trödelte absichtlich. Die anderen Schüler packten ihre Taschen und gingen hinaus, einer nach dem anderen.
    Wahrscheinlich würde ich ein bisschen Kraft brauchen, um das Fenster aufzuschieben. Der Wind würde hereinwehen, kalt, mit etwas Regen vermischt. Abwarten, bis alle über den Schulhof davonschlenderten. Auf die Fensterbank steigen, die Füße dicht nebeneinander stellen, die Zehenspitzen auf der Schiene, die die Scheibe hält. Den Rahmen loslassen, ohne das Gleichgewicht zu verlieren. Noch einmal einatmen. Augen schließen, Arme ausbreiten, die kalte Luft einen Augenblick lang im Gesicht spüren, im Haar, zwischen den Fingern. Und dann einfach nach vorn kippen lassen …
    Morgenroth wartete auf mich.
    Vermutlich hatten die Lehrer nach Evas Selbstmord Anweisung, die leeren Räume abzuschließen.
    »Wie hat dir der erste Schultag gefallen, Lila?«, erkundigte sich der Steinzeitmensch. Ich registrierte, dass er die Tür zuzog, ohne seinen Schlüssel zu benutzen.
    »Okay«, sagte ich. »Müssen Sie nicht abschließen?«
    Er hielt mir einen kleinen Plastikchip unter die Nase: »Nö.

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