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Der 13. Brief

Titel: Der 13. Brief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucie Klassen
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vorstellen, dass Dittmer in dem gleichen Pullunder als Schüler in einer Klasse gesessen hatte. Wahrscheinlich war er der Einfachheit halber Lehrer geworden. Die Schule hatte er schon gekannt, da waren keine großen Veränderungen nötig gewesen. Wie hatte der es geschafft, bis heute in den Klassen zu überleben? Indem er die Schüler machen ließ, was sie wollten?
    Karo neben mir lackierte ihre Fingernägel, Lena und Franzi unterhielten sich mit den Jungen am Tisch hinter ihnen und Jendrick, der Penner, schlief zweifellos schon wieder.
    Laut Danners Berichten hatte Karo behauptet, Dittmer würde grapschen.
    Konnte das sein?
    Hm.
    Schon.
    Dass Dittmer wilden Sex mit einer stilvollen, rothaarigen Marie auf der Ladefläche eines klapprigen Autos hatte, konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Aber dass er im Vorbeigehen mal an einen Hintern griff?
    Warum nicht?
    Das sollte sich herausfinden lassen. Ich erkannte recht schnell, wenn jemand tatschte. Erfahrungssache. Zu verdanken hatte ich diese Fähigkeit meiner Mutter, deren liebstes Hobby es war, alternde Akademiker zu Sektempfängen einzuladen.
    Mit sechs war ich die Hauptattraktion auf solchen Veranstaltungen gewesen. Sie hatte mich in rosa Kleidchen gesteckt, mir blonde Zöpfe gemacht und mich mit meinem Bruder zusammen vierhändig Klavier spielen lassen. Anschließend war ich vorgeführt worden wie ein Zwergpudel, der einen Salto springen konnte. Die niedliche, kleine Tochter des Oberstaatsanwalts. So hübsch, so begabt, so artig!
    Nur so konnte ich mir erklären, dass ich meinen ersten Zungenkuss von einem Siebzigjährigen auf unserer Gästetoilette bekommen hatte.
    Als der Gong die Klasse aus dem Tiefschlaf holte, kippte Moritz in der dritten Reihe vor Schreck mit seinem Stuhl um. Während die anderen fluchtartig den Raum verließen, blieb ich zurück. Ich wuschelte meine Haare ein bisschen durcheinander und setzte ein dümmliches Blondinenlächeln auf, bevor ich ans Pult trat.
    »Herr Dittmer?«
    Er sah auf. »Ah, Lila. Was kann ich für dich tun?«
    Ich roch den Zigarettenrauch, der sich in der Wolle seines Pullunders festgesetzt hatte.
    »Ich habe den Eindruck, Sie sind mit dem Unterricht um einiges weiter, als das an meiner alten Schule der Fall war. Haben Sie vielleicht ein paar Unterlagen, damit ich bis zur nächsten Stunde etwas Stoff nachholen kann?«
    Erstaunt richtete er sich auf. »Natürlich.« Er fing an, in seiner Tasche zu kramen.
    Die Tür rummste zu und eine Sekunde lang erinnerte ich mich an die neumodische Schließanlage, die verhinderte, dass jemand ohne diesen Coin hereinkam.
    Wir waren allein im Raum.
    »Nein, im Moment habe ich leider nichts dabei«, murmelte Dittmer so emotionslos, als hielte er schon wieder einen französischen Vortrag. »Aber ich kann dir ein paar Übungsblätter zusammenstellen.«
    »Das wäre nett«, lächelte ich artig.
    Er erhob sich und ging dichter neben mir zur Tür, als es der Mittelgang zwischen den Tischreihen erfordert hätte.
    Ich überlegte, ob es zu dicht war.
    »Ich freue mich über dein Interesse an der Sprache.« Ein lahmes Lächeln zog die graue Haut an seinem Kinn in die Breite. Er griff an meiner Schulter vorbei, um die Tür für mich zu öffnen. Wieder fiel mir auf, dass er nach altem Rauch roch. Ich lauerte darauf, dass er meinen Arm streifte.
    Er hielt inne, als er die Klinke in der Hand hatte: »Hast du auch Interesse an einer Bücherliste?«
    Er hatte Mundgeruch.
    »Gerne!«, strahlte ich.
    Seine Distanzlosigkeit war unbestreitbar, denn für meinen Geschmack war mir jeder, dessen Mundgeruch ich bemerkte, zu nah gekommen.
    Aber seine Finger behielt er bei sich.
    Doch kein Grapscher?
    Schließlich war ich eine persönliche Einladung: Blonde Haare, blaue Kulleraugen, blödes Grinsen – und allein mit ihm in einem Raum, dessen Tür von außen nicht geöffnet werden konnte. Wenn er da nicht anbiss, stand er auf die Lehnert.
    Na schön. Letzte Chance, du Schlaftablette!
    Ich ließ meinen Rucksack von der Schulter rutschen. Durch den Atlas und das dicke Erdkundebuch polterte er laut zu Boden.
    »Ach, Mist.« Ich bückte mich.
    Ich spürte seinen Blick auf meinem Hintern, ich wusste genau, er sah hin. Aber noch immer keine Berührung.
    »Ich bringe dir die Unterlagen zur nächsten Stunde mit«, nuschelte er, als ich mich wieder aufrichtete. Ich hatte das Gefühl, er war mir noch näher gekommen, doch ich war mir nicht sicher.
    »Wenn du allerdings übers Wochenende daran arbeiten willst,

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