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Der 13. Engel

Der 13. Engel

Titel: Der 13. Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Borlik
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neuen Freund gewonnen. Finn war ganz sicher kein Spion ihrer Tante. Dafür wirkte er viel zu nett. Sie drehte sich auf die Seite. Milchigweißes Mondlicht fiel durch den Vorhang und tauchte das Zimmer in ein Mosaik aus hellen und dunklen Flecken. So fremd war ihr das Haus, und erst recht dieses Zimmer. Es roch so gar nicht nach ihr und damit nach Zuhause. Dafür lag ein Geruch nach Zitrone und scharfem Essig in der Luft, der leicht in der Nase zwickte. Tante Hester musste einen Putzfimmel haben!
    Amys Blick glitt zu der exotischen Palme, die in einer Ecke des Zimmers stand. Bei diesem gespenstischen Licht sahen ihre Blätter wie eine riesige schwarze Hand aus, die aus dem Boden wuchs, um nach ihr zu greifen. Sie stöhnte. Genau gegenüber von ihrem Bett ragte ein wuchtiger Kleiderschrank auf. Das war auch nicht viel besser. Denn seine Umrisse erinnerten Amy an den fetten Polizisten.
    Plötzlich saß sie kerzengerade in ihrem Bett. Warum hatten die Polizisten nach der Verhaftung ihres Vaters eigentlich nicht das Haus durchsucht? Für eine Verurteilung brauchten sie schließlich Beweise oder Zeugen. Von beidem hatte der dicke Polizist nichts gesagt. Amy kratzte sich an der Nase. Da stimmte doch etwas nicht! Sie beschloss, gleich morgen früh mit Tante Hester darüber zu reden.

    Nach dem Aufstehen ging Amy hinunter ins Esszimmer, wo ihre Tante bereits auf sie wartete. Zum Frühstück gab es eine Scheibe Brot und einen Löffel Erdbeerkonfitüre, dazu wässrigen Tee. Das ist alles?, dachte Amy mit knurrendem Magen. Sie hoffte nur, dass das Mittagessen nicht genauso karg ausfiel. Andererseits würde es erklären, warum Tante Hester ein solches Klappergestell war.
    »Heute Nachmittag wirst du deinen Hauslehrer, Mr Fraud, kennenlernen«, sagte Tante Hester unvermittelt. »Er wird dich auf den Unterricht im Internat vorbereiten.«
    Amy legte das Messer beiseite, mit dem sie ihr Brot bestrichen hatte. Eine steile Falte bildete sich auf ihrer Stirn. Wie hatte Tante Hester so schnell einen Hauslehrer für sie finden können? Amys Vater war jahrelang vergeblich auf der Suche nach einem gewesen, der bereit gewesen wäre, sie zu unterrichten. Hatte Hester so großen Einfluss? Oder war das noch so ein merkwürdiger Zufall, wie der, dass ihr Besuch ausgerechnet auf den gestrigen Tag gefallen war? Ein wenig trotzig bemerkte Amy: »Bisher hat mein Vater mich immer unterrichtet.«
    Ihre Tante rümpfte die Nase. »Das erklärt so einiges.«
    »Ach ja?« Unter dem Tisch ballte Amy die Hände zu Fäusten. Aber dieses Mal würde sie sich nicht so leicht von ihrer Tante provozieren lassen. Sie schluckte ihren Zorn hinunter und lenkte das Gespräch auf ein anderes Thema. »Ist dir aufgefallen, dass die Polizisten gestern nicht einmal unser Haus durchsucht haben?«
    »Es ist nicht unsere Aufgabe, uns in die Arbeit der Polizei einzumischen«, wies Tante Hester sie zurecht. »Und warum kannst du nicht endlich einmal von etwas anderem reden als immer nur von deinem Vater?« Sie schnaubte und griff nach der Serviette, um sich die Lippen abzutupfen. Amy bemerkte sofort, dass ihre Finger leicht zitterten. »Ich habe für heute zehn Uhr eine Kutsche bestellt«, fuhr sie fort. »Wir werden einkaufen fahren. In diesen unmöglichen Kleidern kann ich dich nicht länger herumlaufen lassen. Was würden meine Nachbarn dazu sagen, wenn sie dich so sähen? Außerdem benötigst du eine neue Garderobe für deinen Internatsaufenthalt. Dort pflegt man einen gewissen Stil.«
    Amy senkte betreten den Blick. »Was ist das überhaupt für ein Internat?«, fragte sie kaum hörbar.
    »Das wirst du noch früh genug erfahren.«

    Die Droschke sah genauso aus wie die vom Vortag. Sie brachte Amy und ihre Tante in die Carrodsgasse, die berühmteste Einkaufsstraße der Stadt. Dort bekam man alles, was man wollte, und dazu noch in den erlesensten und kostbarsten Ausführungen. Ob es um seltene Zauberbücher ging, exotische Delikatessen aus fernen Ländern oder elegante und edle Stoffe, in der Carrodsgasse war man immer richtig.
    Amy war deswegen schon ganz aufgeregt. Ihr Vater hatte es sich nie leisten können, dort mit ihr einkaufen zu gehen. Ihr Vater … Was wusste Tante Hester über ihn, dass sie ihr verheimlichte? Als Amy beim Frühstück versucht hatte, mit ihr über seine Verhaftung zu reden, hatten die Hände ihrer Tante vor Nervosität gezittert. Kannte sie etwa den Grund, warum er wegen Hochverrats angeklagt werden sollte? Amy musste daran denken, wie Tante Hester

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