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Der 13. Engel

Der 13. Engel

Titel: Der 13. Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Borlik
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mit ihr das Fotoalbum durchgeschaut hatte. Für einen kurzen Moment war sie zu einer anderen Person geworden. Vielleicht verbarg sich tief in ihrem Inneren ein weicher Kern, der Amy nur schützen wollte und ihr deshalb die Wahrheit verschwieg?
    Amys Eingeweide krampften sich zusammen. Aber wenn das stimmte, war ihr Vater schuldig. Hatte er darum ein solches Geheimnis um seine letzte Arbeit gemacht? War er in Wirklichkeit in ein Verbrechen gegen die Krone verwickelt?
    Die Kutsche rollte durch ein tiefes Schlagloch und schreckte Amy aus ihren Gedanken. Sie warf ihrer Tante einen unauffälligen Blick zu. Deren Gesicht war maskenhaft starr. Ihre blauen Augen schimmerten wie Eis. Konnte so jemand einen weichen Kern haben? Plötzlich drehte Tante Hester den Kopf in Amys Richtung. Rasch wandte sie sich ab und tat so, als beobachte sie die Spaziergänger, an denen sie vorüberfuhren.
    Die Carrodsgasse war ein schmales Sträßchen, eingequetscht zwischen hoch aufragenden Backsteinbauten, die in ihrem Erdgeschoss winzige, aber exklusive Geschäfte beherbergten. Fasziniert huschte Amys Blick über die vielen Schaufenster und Auslagen vor den Ladenlokalen, während sie das Sträßchen entlanggingen. Alles war unglaublich teuer. Es gab Kleider, die mehr kosteten, als ihr Vater in einem ganzen Monat verdiente.
    Kutschen fuhren hier nicht, dafür war einfach nicht genug Platz. Auch konnte Amy nirgendwo einen der vielen Straßenverkäufer mit ihren Bauchläden voll Krimskrams entdecken, die man sonst überall in der Stadt antraf. Dafür gab es hier viele kleine Straßencafés, in denen Scharen vornehm gekleideter Frauen saßen, die wie aufgeregte Gänse miteinander schnatterten. Einem der Tische kamen sie so nahe, dass Amy einen Teil des Gespräches mitbekam.
    »Hast du es schon gehört?«, sagte eine kleine rundliche Frau zu ihrer Freundin. »Lady Penelope Winterhall hat sich für die Krönungszeremonie von Prinz Henry ein ganz besonderes Kleid schneidern lassen. Es ist durchsetzt mit Goldfäden und kostbaren Perlenstickereien.« Sie gab einen Laut der Entrüstung von sich. »Was denkt sie sich nur dabei? Will sie dem Prinzen etwa die Schau stehlen?«
    »Sie verhält sich, als wäre es ihr Mann, der an diesem Tag zum König gekrönt wird«, pflichtete ihre Freundin ihr bei. »Auf der anderen Seite ist Lord Winterhall der engste Berater des zukünftigen Herrschers. Da kann sie ja wohl schlecht in einem Kartoffelsack …« Der Rest des Satzes ging in dem schrillen Gekicher eines benachbarten Damenkränzchens unter.
    Volle drei Stunden schleppte Tante Hester Amy gnadenlos von einem Geschäft zum anderen. Bald war sie von den Schuhen bis zum Hut vollständig neu eingekleidet. Das Ganze hätte Amy sicher einen Riesenspaß bereitet, hätten ihre Füße nicht so fürchterlich geschmerzt. Denn Tante Hester hatte von ihr verlangt, die neuen Schuhe gleich anzubehalten, damit sie sich wegen Amy nicht vor der Schneiderin zu schämen brauchte, die sie als Nächstes aufgesucht hatten.
    »Nun lass dich nicht so ziehen«, keifte Tante Hester, »schließlich tue ich das alles nur für dich.«
    »Ich kann nicht mehr«, beklagte sich Amy.
    »Himmel, Kind, ich muss nur noch in dieses Geschäft dort vorne, dann sind wir mit unseren Einkäufen fertig.« Tante Hester deutete auf einen Laden, über dessen Eingang ein altes Weinfass hing, das leicht im Wind schaukelte. In goldenen Buchstaben stand darauf: »Gibbons Weinhandlung – Edle Tropfen aus aller Welt«.
    Amy blieb stehen. »Kann ich draußen warten?«
    Ihre Tante zögerte. »Aber bleib in der Nähe und stell keinen Unfug an. Verstanden?« Sie ließ ihre Hand los und verschwand in dem Weingeschäft.
    Ein paar Meter weiter hatte Amy einen Straßengaukler entdeckt, der magische Kunststücke vorführte. Der junge Mann hatte tiefschwarzes Haar mit blauen Spitzen. Passend zu seinen Haarspitzen trug er einen dunkelblauen Umhang. Amy hatte sofort das Gefühl, dass er sie an jemanden erinnerte. In dem Moment erhob sich ein gläserner Spatz aus der Hand des Gauklers. Mit klirrenden Flügeln stob er davon, nur um an einer nahen Straßenlaterne in Hunderte kleiner Splitter zu zerschellen, die sich noch im Fall in purpurne Regentropfen verwandelten.
    Amy klatschte begeistert und warf zwei Pennys in einen eingebeulten blauen Zylinder. Der Gaukler verneigte sich. »Darf ich mich vorstellen?« Er reichte Amy seine Karte. Sie bestand aus einem silbrig glitzernden Papier mit goldenem Schriftzug. »Cornelius

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