Der 13. Engel
und ängstlich auf dem kalten Boden hockend zurück. Da hörte sie, was der Alte bereits Augenblicke zuvor vernommen hatte: Schritte. Viele Schritte, die von den Häuserwänden widerhallten. Dann tönte eine Trillerpfeife durch die Nacht. Polizisten, dachte Amy und wollte bereits erleichtert aufatmen. Doch dann fiel ihr ein, dass sie womöglich im Auftrag der Frau mit dem Porzellangesicht kamen. Amy sprang auf. Sie ignorierte die Müdigkeit und die schmerzenden Blasen und rannte, so schnell sie ihre Füße trugen.
Amys Gabe
Amy lief auf die schneeweiße Villa am Ende der Straße zu. Plötzlich blieb sie stehen und blickte sich schwer atmend um. Alles ruhig. Ihre Verfolger hatte sie abgeschüttelt und auf dem Platz vor dem Haus zeigte sich keine Menschenseele.
Amy lächelte. Puh, das war knapp gewesen!
Sie hatte die Hand gerade nach dem messingfarbenen Türklopfer ausgestreckt, als die Tür unerwartet aufschwang. Vor ihr stand Tante Hester. Sie hatte die Stirn in Furchen gelegt, wodurch ihre buschigen Augenbrauen noch bedrohlicher als sonst wirkten. »Da bist du ja«, sagte sie mit verkniffenen Lippen.
»Ich muss dir was Wichtiges erzählen«, keuchte Amy.
»Sei still«, schnappte Tante Hester, schlang ihre dürren Finger um Amys Oberarm und zerrte sie grob ins Haus.
»Ich weiß, dass du furchtbar wütend bist. Aber es ist wirklich wichtig. Du musst mir zuhören, bitte!«
Tante Hester gab ihr einen unsanften Stoß. »Ins Wohnzimmer mit dir!«
Ihre Tante verhielt sich genau so, wie Amy es erwartet hatte. »Du verstehst nicht …«
»Nun sei endlich still«, fauche Tante Hester, während die Zornesröte ihr in die sonst so bleichen Wangen stieg. »Du hast mir schon mehr als genug Ärger gemacht, treib es nicht auf die Spitze! Oder willst du dir eine Ohrfeige einfangen?«
Amy starrte sie mit schreckensweiten Augen an. Dass Tante Hester richtig fies sein konnte, war nichts Neues. Doch so unbeherrscht hatte Amy sie noch nie erlebt.
Als sie ins Wohnzimmer kamen, stellte sie überrascht fest, dass ihre Tante Besuch hatte. In einem roten Samtsessel vor dem Kamin saß ein kleiner, glatzköpfiger, dicker Mann mit einem großen schneeweißen Schnurrbart, der ihn wie ein fettes Walross aussehen ließ. Obwohl Amy sicher war, dem Mann noch nie zuvor begegnet zu sein, kam ihr sein Gesicht vertraut vor. Bevor ihr einfiel, woher, bemerkte sie eine weitere Person im Raum, eine Frau. Sie war groß und schlank, trug ein schwarzes Kleid und blickte durch das Fenster in den Vorgarten. Sie wandte Amy den Rücken zu.
»Hat dir dein Vater kein Benehmen beigebracht?«, zischte Tante Hester hinter ihr. »Mach gefälligst einen Knicks vor Lord Winterhall!«
Lord Winterhall? Amy starrte den dicklichen Mann mit halb geöffnetem Mund an. Doch plötzlich grinste sie. Besser hätte sie es gar nicht antreffen können. Nun konnte sie sogar Lord Winterhall persönlich von der Verschwörung erzählen. Amy machte eine hektische Verbeugung.
Tante Hester stöhnte. »Was sagte ich? Einen Knicks, Kind, einen Knicks. Damen verbeugen sich nicht!«
Amy ignorierte den Rüffel. »Ich muss Ihnen ganz dringend etwas sagen, Eure Lordschaft«, platzte sie heraus. »Es gibt eine Verschwörung. Ja, ich weiß, wie verrückt das klingt. Aber es ist wahr! Ich war gerade zu Hause, also im Arbeitszimmer meines Vaters, und habe …«
»Still«, fuhr Tante Hester ihr ins Wort. »Niemand hat dir erlaubt zu sprechen!«
»Warum lassen Sie das Mädchen nicht ausreden, werte Hester?« Die Stimme erinnerte an das Klirren von eisverkrusteten Ästen, die sich im Winterwind aneinander reiben. Amy jagte ein Schauder über den Rücken. Sie sah zu der Frau am Fenster, die sich langsam umdrehte. Bei ihrem Anblick gefror Amy das Blut in den Adern. Das war sie. Die Frau mit dem Porzellangesicht.
»Nein«, wimmerte Amy. »Bitte nicht!«
Die Bewegungen der Frau wirkten wie die eines Geistes, als sie sich an Lord Winterhalls Seite begab. Leicht, fast schwerelos und von einer schauderhaften Eleganz, die grenzenlosen Hochmut erkennen ließ. Der einzige Laut, den sie beim Gehen verursachte, war das Rascheln ihres tiefschwarzen Kleides. »Das ist Lady Lucia Morningstar«, sagte Tante Hester in einem noch respektvolleren Ton, als den, mit dem sie bereits Lord Winterhall vorgestellt hatte. »Begrüße sie!«
Doch die Frau mit dem Porzellangesicht schien auf solche Höflichkeiten keinen Wert zu legen, stattdessen forderte sie von Amy: »Erzähle uns, was du herausgefunden
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