Der 13. Engel
gepresst vor. Ihre Knie zitterten vor Anspannung und kleine Schweißperlen standen auf ihrer Stirn.
Ganz ruhig, dachte sie.
Amy zählte bis drei, hielt die Luft an und schielte vorsichtig um die Ecke. Die Frau war nicht mehr da. Amy wollte sich schon die Augen reiben, weil sie fürchtete zu träumen. Wohin war sie verschwunden?
Amy suchte die Straße ab. Da ging ein junges Pärchen Arm in Arm spazieren. Ansonst war keine Menschenseele zu sehen. Sollte die Frau mit dem Porzellangesicht es ihr wirklich so leicht machen? Amy wollte es nicht glauben. In den Augen der Frau hatte ein solcher Hass gestanden, dass sich Amy gewundert hatte, dass sie ihr nicht wie ein wildes Tier durch das Glas entgegengesprungen war.
Plötzlich war da ein Geräusch direkt hinter Amy. Oh, nein, sie hat mich reingelegt!
Als nicht sofort etwas passierte, nahm Amy all ihren Mut zusammen und wandte sich mit einem Ruck um. Aber da war nur eine kleine, grau getigerte Katze, die ihre Krallen an der Regentonne am Ende des Hofes wetzte.
Amy lachte vor Erleichterung. Allerdings hielt die nicht lange vor. Ihr war nämlich eingefallen, wohin die Frau gegangen sein konnte. Warum sollte sie sich selber mit Amy abmühen, wenn sie es genauso wie bei ihrem Vater machen konnte? Sie brauchte Amy einfach nur bei der Polizei als Hochverräterin anzuschwärzen. Schon wäre sie zum Schweigen gebracht. Denn wer würde an Amys Unschuld glauben, wenn bereits ihr Vater wegen des gleichen Verbrechens im Gefängnis saß?
Das darf nicht passieren, dachte Amy. Ich muss gleich mit Tante Hester sprechen!
Sie rannte los.
Als sie das Ende der Straße erreichte, keuchte sie schwer. Den halben Tag lief sie nun schon kreuz und quer durch die Stadt und allmählich machte sich Erschöpfung in ihr breit. Sie hatte Hunger, außerdem Dutzende von Blasen durch die neuen Stiefel. Und das Seitenstechen fühlte sich an, als würde ihr jemand einen spitzen Finger in die Rippen bohren. Wenn sie sich vorstellte, dass das noch zwei Stunden so gehen würde, bevor sie endlich bei Tante Hester ankäme, wäre sie am liebsten einfach ohnmächtig geworden. Sie war so müde, dennoch musste sie auf dem schnellsten Weg zu ihrer Tante.
Amy hob die Hand und begann aufgeregt zu winken. Sofort war das Knallen einer Peitsche zu hören und eine Droschke setzte sich ruckelnd in Bewegung. Neben dem Kutscher hing eine Laterne, die in der Dämmerung wie das feurige Auge eines Zyklopen glühte. Amy lief der Kutsche entgegen. »Sie … müssen mich auf … auf … dem schnellsten Weg … nach Hause bringen«, rief sie atemlos.
Der Kutscher hielt an und beäugte Amy skeptisch. »Warum ist eine junge Dame wie du noch so spät alleine unterwegs?«
»Das ist meine Sache«, sagte Amy schnippisch, die keine Lust auf lange Erklärungen hatte.
»Hm, und wohin soll’s gehen?«
»Zum Pfauenpark.«
Der Kutscher rieb sich nachdenklich das stoppelbärtige Kinn. »Das ist auf der anderen Seite der Stadt. Hast du überhaupt Geld?«
Amy zögerte. »Nein, hab ich nicht. Aber meine Tante wird Sie bezahlen, sobald wir bei ihrem Haus sind.«
Der Kutscher lachte laut auf. »Weißt du eigentlich, wie oft ich solche Geschichten zu hören bekomme? Seh ich wirklich so dumm aus, als ob ich auf einen derartig alten Trick hereinfallen würde?« Er schüttelte ärgerlich den Kopf. »Ich kenn das Spielchen nur zu gut. Sobald wir am Ziel sind, springst du raus und machst dich aus dem Staub. Und ich kann zusehen, woher ich mein Geld bekomme. Nicht mit mir!« Er schwang die Peitsche.
»Bitte, Sir, Sie müssen mir glauben!«
Der Kutscher hielt in der Bewegung inne. Nun neigte er den Kopf zur Seite und musterte Amy mit einem tückischen Grinsen. »Jemand, der solche Kleider trägt, nennt mich ›Sir‹? Junge Dame, du musst noch viel lernen, wenn du mich aufs Kreuz legen willst.«
Amy starrte ihm wütend nach. Dann eben nicht, dachte sie. Obwohl es noch nicht ganz dunkel war, ging der Mond bereits über der Stadt auf. Wenigstens ist Vollmond, stellte sie erleichtert fest. Er würde ihr unterwegs ein wenig Licht spenden. Denn nur die Hauptstraßen verfügten über Gaslaternen, die nach Einbruch der Nacht entzündet wurden. Nun fielen ihr auch wieder Finn und die Blüte des Mondfeuers ein. Der Gedanke versetzte ihr einen Stich. Höchste Zeit, heimzukehren.
Allmählich begannen sich die Straßen zu leeren, als die Stadtbewohner vor der Dunkelheit und der aufziehenden Kälte in ihre warmen, behaglichen Häuser flohen. Amy
Weitere Kostenlose Bücher