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Der 13. Engel

Der 13. Engel

Titel: Der 13. Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Borlik
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beneidete sie darum. Der Wind zerrte an ihrem Haar und ließ sie frösteln. Auch der Mantel, den sie eng um sich geschlungen hatte, schützte sie kaum. Wenn sie nur nicht so müde gewesen wäre, hätte sie die Kälte bestimmt leichter ertragen können. So fühlten sich ihre Füße an, als steckten sie in Stiefeln aus Blei. Jeder Schritt fiel ihr schwerer und schwerer. Am liebsten hätte sie sich irgendwo hingehockt, um sich eine kleine Verschnaufpause zu gönnen. Sie wagte es jedoch nicht, weil sie danach erst recht nicht mehr die Kraft gefunden hätte, weiterzugehen. Und dabei lag noch eine volle Stunde Fußmarsch vor ihr.
    Die meisten Straßen und Gässchen wirkten um diese Zeit wie ausgestorben. Nicht mal ein Streuner kreuzte ihren Weg. Es war einsam wie auf einem Friedhof. Als die Nacht vollends über die Stadt hereinbrach und der Mond wie ein großes, silbrig weißes Auge über den Dächern stand, wünschte sich Amy wie noch nie im Leben, zaubern zu können. Die vielen dunklen Hauseingänge, an denen sie vorüber musste und in denen sonst jemand herumlungern konnte, machten ihr Angst. Wenn sie nur ein Irrlicht herbeirufen könnte, das ihr den Weg erleuchten würde!
    Sehnsüchtig starrte sie hinauf zu den Fenstern der Häuser, hinter denen orangerote Kaminfeuer flackerten. Warm und behaglich schien es dort drinnen zu sein. Vor allen Dingen mussten diese Menschen nicht fürchten, von einer Frau verfolgt zu werden, die wie das pure Böse wirkte. Wo war sie da nur hineingeraten?
    Amy vergrub die Hände tiefer in den Taschen ihres Mantels. Warum ich?, fragte sie sich. Warum mein Vater? Wir haben nie jemandem etwas getan! Doch es gab Hoffnung. Wenn Tante Hester den Prinzen erst gewarnt hatte, würde er wissen, dass sie keine Verräter waren, und dann würde auch ihr Vater bald wieder frei sein.
    »Da bist du ja«, sagte eine raue Stimme.
    Amy fuhr zusammen. Vor ihr stand ein alter Mann mit kahlem Schädel und einem verfilztem Backenbart. Er trug die schäbige Kleidung eines Seemanns und stank grauenvoll nach billigem Rum. Eine leuchtend blaue Augenklappe, die sein linkes Auge bedeckte, war der einzige Farbklecks an ihm.
    »Was wollen Sie?« Amys Stimme bebte, was nicht nur an der Kälte lag.
    Der Alte stieß ein kehliges Lachen aus.
    Amy wich zurück. »Sind … sind Sie ein Pirat?«
    »Hab ich dich nicht gewarnt?« Er kam ihr entgegengehinkt. »Hab ich dir nicht gesagt, dass du dich nicht einmischen sollst?«
    »Sie müssen mich verwechseln. Ich kenne Sie nicht einmal.«
    »Unsinn, du dummes Gör, ich weiß sehr gut, wer du bist«, fauchte der Alte sie an. »Du hast dir Ärger eingebrockt. Mächtigen Ärger. Du weißt es nur noch nicht. Herrgott, Amy, warum hast du nicht auf mich gehört?«
    Amy hob abwehrend die Hände, als er noch näher kam. »Sie sind ja verrückt. Lassen Sie mich in Ruhe!«
    Seine Hand schoss vor, krallte sich in den Kragen ihres Mantels und zog sie so dicht an sich heran, dass sie selber bei diesem schwachen Licht seine gelblich braunen Stummelzähne erkennen konnte. »Flieh!«, zischte er und kleine, stinkende Speicheltröpfchen trafen Amy überall im Gesicht. »Flieh dorthin, wo dich keiner finden kann!«
    Amy war gelähmt vor Angst. Ihr Mund war halb zu einem Schrei geöffnet, aber sie brachte keinen Ton heraus. Sie konnte nur in das eine Auge des Alten starren, in dem die Wut wie ein Stück tiefroter Kohle glühte. »Ich hätte es besser wissen müssen«, knurrte er leise. »Jetzt ist es zu spät … jetzt steckst du schon mittendrin in dieser Sache.«
    Amy nahm ihren ganzen verbliebenen Mut zusammen und presste hervor: »Wenn Sie mich nicht sofort loslassen, schreie ich.«
    Der Alte lachte wieder. »Nur zu. Aber du weißt hoffentlich, dass du dann erst recht jene auf deine Spur bringen wirst, denen du zu entkommen versuchst. Ja, ich weiß, dass du auf der Flucht bist und dass dir die Zeit zwischen den Fingern zerrinnt.« Er schüttelte Amy wütend. »Dummes Kind, sie kennt kein Erbarmen. Mit niemandem. Für sie zählt nur, dass sie ihr Ziel erreicht. Und dafür ist sie bereit, alles zu tun. Begreifst du, was das bedeutet?«
    »Die Frau … die Frau mit …«
    »Ja, von ihr rede ich!«
    »Woher wissen Sie von ihr?«
    »Still!«, zischte er sie an und legte den Kopf zur Seite, als lausche er auf etwas. »Es wird Zeit, zu verschwinden!« Er ließ Amy so plötzlich los, dass sie zurückstolperte und auf ihrem Hintern landete. Er selber hinkte hastig in die Dunkelheit davon.
    Amy blieb verwirrt

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