Der 13. Engel
hast!«
Amy schaute Hilfe suchend zu ihrer Tante auf. Doch sobald sie in ihr kaltes, gefühlloses Gesicht geblickt hatte, wusste Amy, dass sie sie auf keinen Fall vor dieser Frau beschützen würde. »Warum hast du dich auch nicht an die Regeln gehalten?«, sagte Tante Hester mitleidlos. »Du hättest es so gut haben können. In ein paar Wochen wärst du auf das Internat gewechselt. Ich wäre dich für immer losgeworden und du hättest dort ein privilegiertes Leben genießen können. Wir wären beide glücklich gewesen. Nun hast du dir mit deinem Herumgeschnüffel alles kaputt gemacht.«
»Meine gute Hester«, mischte sich Lucia ein. »Sie waren es, die ihre Pflicht vernachlässigt hat. Das sollten Sie nicht vergessen! Ich hatte Sie gebeten, das Mädchen keinen Moment unbeaufsichtigt zu lassen. Zumindest, bis wir unser Ziel erreicht haben. Was danach aus ihr geworden wäre, hat mich nie gekümmert. Aber dieser einfachen Aufgabe waren Sie anscheinend nicht gewachsen.«
Tante Hester schnaubte leise. »Ich verstehe nicht, wozu? Dass wir ihren Vater loswerden mussten, leuchtet mir noch ein. Er hat seine Nase in Dinge gesteckt, die ihn nichts angehen. Aber Amy? Von ihr drohte uns nicht die geringste Gefahr. Sie kann ja noch nicht einmal zaubern.«
»Ich habe meine Gründe, und die gehen Sie nichts an, Hester.« Lucia starrte Amys Tante so unverwandt mit ihren boshaften schwarzen Augen an, dass diese beklommen den Blick senkte. »Ich habe Ihnen Ansehen und Ruhm versprochen – und auch Macht. Das ist Ihre Belohnung. Dafür erwarte ich, dass Sie meine Wünsche bedingungslos respektieren. So lautet unsere Abmachung, und die haben Sie ja hoffentlich nicht vergessen.«
Tante Hester schluckte hörbar. »Nein … nein, natürlich nicht.« Abwehrend hob sie beide Hände.
»Du hast das meinem Vater angetan?«, brach es aus Amy heraus. »Du hast ihn ins Gefängnis werfen lassen?« Sie starrte ihre Tante vorwurfsvoll an. Wie hatte sie ihre eigene Familie nur so hintergehen können? So hilflos, verloren und alleine wie in diesem Moment war sich Amy nicht einmal vorgekommen, als sie ihren Vater abgeführt hatten. Traurig, verzweifelt und sogar wütend war sie gewesen und diese Wut hatte ihr letztlich die Kraft gegeben, weiterzumachen. Jetzt war nur noch hoffnungslose Leere in ihr. Als hätte jemand alle Lebenskraft, alle Wärme und Zuversicht aus ihr herausgesaugt. Ihr Blick wechselte zu der Frau mit dem Porzellangesicht und dann zu Lord Winterhall. Diese drei Menschen würden für den Tod ihres Vaters verantwortlich sein. Er sollte die Strafe erleiden, die eigentlich ihnen gebührte: den wahren Verrätern!
»Das brauchst du ja jetzt nicht mehr.« Tante Hester griff in Amys Manteltasche und entnahm ihr das schwarze Notizbuch.
Amy versuchte erst gar nicht, sich zu wehren. Gegen drei Erwachsene hatte sie keine Chance.
»Was ist jetzt, junges Fräulein?« Lord Winterhall hatte eine hohe, leicht quäkende Stimme, in der eine Spur jener Arroganz mitschwang, die man von einem Mann seiner Stellung erwartete.
Amy sah ihn finster an. Als zweitmächtigster Mann im Königreich war er vermutlich der Kopf der Verschwörung. Wenn sie jetzt zaubern könnte, würde sie eine fette Kröte aus ihm machen. Nichts anderes hätte er verdient.
»Du wolltest uns vorhin etwas Wichtiges erzählen. Nun fahre auch fort!« Lord Winterhall wedelte auffordernd mit einer fleischigen Hand.
Amy blickte sich unauffällig um. Das einzige Hindernis zwischen ihr und der Tür war ihre Tante. Wenn sie es geschickt anstellte, konnte sie unter ihren Händen hinwegtauchen und …
»Das solltest du erst gar nicht versuchen«, sagte die Frau mit dem Porzellangesicht. »Ich wäre bei dir, bevor du den zweiten Schritt gemacht hättest.«
Amy erstarrte. Niemals zuvor war ihr ein unheimlicherer Mensch begegnet. Konnte diese Lucia etwa Gedanken lesen? Just in diesem Moment verzogen sich die kirschroten Lippen zu einem Lächeln, das Amy eine Gänsehaut über den Rücken jagte.
»Wir müssen endlich herausfinden, wie viel sie über unsere Pläne weiß.« Lord Winterhall war mit einer Behändigkeit aus seinem Sessel aufgesprungen, die Amy bei seinem Körperumfang nicht erwartet hätte. Allerdings war er nur einen Kopf größer als sie, was sie höchstwahrscheinlich zum Lachen gebracht hätte, wäre die Situation nicht so verteufelt ernst gewesen. »Übernehmen Sie das, Hester«, sagte er im befehlsgewohnten Tonfall.
»Selbstverständlich, Euer Lordschaft.« Tante Hester
Weitere Kostenlose Bücher