Der 13. Engel
besser darin, die anderen schlechter. Amy hingegen ist wie eine Tasse, die auf dem Kopf steht, sodass nichts hineinpasst. Deshalb kann sie keine Magie aufnehmen und wirken, und deshalb kann man auch keine Magie gegen sie verwenden. Sie perlt einfach von ihr ab.«
Amy hatte ihr gebannt gelauscht. So sehr sie Lucia auch verabscheute: Sie war der erste Mensch, der eine Erklärung dafür hatte, warum Amy so war, wie sie war. Doch plötzlich runzelte sie die Stirn. Was die Frau mit dem Porzellangesicht gerade gesagt hatte, konnte nicht richtig sein. Die Lumpenkinder hatten ihr doch einen Fluch hinterhergeschickt und der hatte gewirkt. Andererseits hatten sie ihn nicht direkt gegen sie eingesetzt, sondern nur einen Schauer aus fauligen Kartoffelschalen auf sie herabregnen lassen. Darin musste der Unterschied liegen.
»Es gibt noch einen anderen Weg, sie zum Sprechen zu bringen«, ereiferte sich Tante Hester, die anscheinend wieder zu Kräften gekommen war. Ohne Vorwarnung schlug sie ihrer Nichte ins Gesicht.
Amy schrie vor Schmerz auf und drückte die Hand auf ihre linke Wange, die wie Feuer brannte. »Warum bist du nur so gemein zu mir?«, fragte sie schluchzend.
»Weil du uns im Weg bist«, sagte Tante Hester verbissen. »Was wir hier tun, geschieht zum Besten von uns allen. Versteh doch, der Prinz ist gerade einmal siebzehn Jahre alt, ein halbes Kind noch. Er ist nicht fähig, ein so großes und mächtiges Reich zu reagieren. Mit ihm auf dem Thron werden unsere Nachbarn uns für Schwächlinge halten und so dürfte es nicht lange dauern, bis ihre Armeen bei uns einfallen, um unser Land unter sich aufzuteilen. Darum brauchen wir jemanden, der stark ist. Eine Führungspersönlichkeit wie Lord Winterhall. Das musst du …«
»Wir verschwenden bloß unsere Zeit«, fiel ihr Lucia ins Wort. »Lassen Sie uns das Mädchen für ein paar Tage ohne Essen und Trinken wegsperren, das wird sie schon zum Reden bringen.«
»In ein paar Tagen könnte es längst zu spät sein«, empörte sich Lord Winterhall. Er sah Lucia hoffnungsvoll an. »Könnten Sie sie nicht zwingen …?«
»Nein.« Der Klang ihrer Stimme war so schneidend, dass nicht nur Amy, sondern auch ihre Tante und der Lord zusammenzuckten. »Es ist mir nicht möglich. Nicht ohne Magie.«
Amy sah von ihr zu den anderen beiden. Wer war diese Lucia, dass Tante Hester und selber Lord Winterhall sich von ihr anherrschen ließen?
»Aber wenn sie nun jemandem von der Verschwörung erzählt hat, könnte der Prinz schon bald alles erfahren«, erwiderte Lord Winterhall behutsam. »Vielleicht sollten wir früher …«
»Der Zeitplan muss eingehalten werden«, erklärte Lucia bestimmt. »Es gibt einen Feind, der noch weitaus gefährlicher ist als dieses kleine Mädchen. Und darum können wir es uns nicht leisten, unvorsichtig zu werden. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?«
Lord Winterhall nickte widerwillig. »Wie sollen wir dann verhindern, dass der Prinz es herausfindet?«
»Sorgen Sie einfach dafür, dass er mit niemandem redet, der nicht auf unserer Seite steht. Und lassen Sie keine Fremden zu ihm vor.«
»Wie soll ich das bitte anstellen?«, schnaubte Lord Winterhall. »Ich kann dem zukünftigen König wohl kaum vorschreiben, was er zu tun und zu lassen hat.«
»Sagen Sie ihm, es sei eine Vorsichtsmaßnahme, die bis zur Krönung beibehalten werden müsste«, erwiderte Lucia. »Er wird es schon verstehen. Jemand wie er hat schließlich nicht nur Freunde.«
Lord Winterhall lächelte tückisch. »Ein guter Vorschlag.«
»Und nun zu ihr.« Lucia deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger auf Amy. »Hat dieses Haus einen Keller?«
»Das schon – allerdings ist er nicht im besten Zustand«, erklärte Tante Hester. »Sehr zugig und feucht.«
»Umso besser. Ist er denn sicher?«
Tante Hester warf Amy einen flüchtigen Blick zu, den diese nicht zu deuten wusste. »Jedenfalls sicher genug, um ein Mädchen wie sie für ein paar Tage festzuhalten.«
»Ausgezeichnet.« Lucia hatte Amy am Kinn gepackt, um ihr besser ins Gesicht blicken zu können. Ein freudloses Lächeln verzerrte ihr sonst so starres Gesicht. »In ein paar Tagen wird sie darum betteln, uns sagen zu dürfen, was wir wissen wollen. Hunger und Durst haben noch jeden zum Reden gebracht!«
Tante Hesters Geheimnis
Ein überwältigender Geruch nach Moder und Fäulnis entstieg dem dunklen Kellerloch und ließ Amy schaudern.
»Du kommst hier nicht eher heraus, bis du uns gesagt hast, was wir wissen wollen«,
Weitere Kostenlose Bücher