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Der 13. Engel

Der 13. Engel

Titel: Der 13. Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Borlik
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erklärte Tante Hester herrisch.
    Amy wollte ihr eine trotzige Antwort geben. Dass sie darauf bis in alle Ewigkeit warten könne. Aber ihr Hals fühlte sich so rau und trocken an, dass sie keinen Ton herausbekam.
    »Nimm die hier mit«, sagte Lucia und hielt ihr eine brennende Kerze hin.
    Was war das? Hatte die Frau mit dem Porzellangesicht plötzlich Mitleid mit ihr?
    »Wieso tun Sie das?«, empörte sich Lord Winterhall. »Sie waren schließlich diejenige, die sie in dieses Loch sperren wollte.«
    »So wird es noch viel quälender für sie werden«, erwiderte Lucia und lächelte Amy an – ein Lächeln, das sie wie ein eisiger Winterhauch frösteln ließ. »Stellen Sie sich nur vor, Lord Winterhall, wie es sein muss, in diesem dreckigen Kellerloch zu hocken. Zerfressen von Furcht und Hoffnungslosigkeit müssen Sie dabei zusehen, wie die Kerze immer weiter herunterbrennt, sodass Sie schon bald in absoluter Schwärze sitzen werden. Und Sie können nichts dagegen tun. Nichts.«
    »Der reinste Albtraum«, hauchte Lord Winterhall und bedachte Amy mit einem gehässigen Blick.
    Ein letztes Mal sah Amy ihre Tante Hilfe suchend an, aber Hester zeigte weder Reue noch Mitleid. »Worauf wartest du noch?«, fragte sie ungeduldig.
    Die Kellertür wurde so heftig hinter Amy zugeworfen, dass der Windzug die Kerzenflamme gefährlich flackern ließ. Amy starrte nach unten. Im orangegelben Schein der Kerze konnte sie abgenutzte Holzstufen erkennen, die hinab in die Finsternis führten. Nach wenigen Tritten beschrieb die Treppe einen Bogen, sodass Amy nicht sehen konnte, was sie an ihrem Ende erwartete.
    Amys Herz tat einen heftigen Sprung, als hinter ihr der Schlüssel im rostigen Schloss kreischte. Jetzt war sie endgültig gefangen. Sie schluckte und blickte wieder in die vor ihr liegende Schwärze. Ihr fielen all die unheimlichen Geschichten über schaurige Wesen ein, die angeblich an solchen Orten hausten. Aber das waren ja nur Geschichten, oder nicht? Die Hand, die die Kerze hielt, begann zu zittern. Vielleicht sollte sie sich einfach hier oben hinsetzen und abwarten.
    Aber dann schüttelte sie den Kopf. Das Schlimmste an der Angst war die Angst selbst. Sie flüsterte einem von Dingen zu, die in Wirklichkeit nicht da waren. Und man konnte sich davon nur befreien, indem man sich ihr stellte. Amy nahm all ihren Mut zusammen und trat einen Schritt vor. Die Treppe knarrte unter ihrem Gewicht. Sie ging tapfer weiter.
    Plötzlich ertönte ein metallisches Scheppern, das sie aus der Dunkelheit ansprang.
    Amy erstarrte. War da unten etwa noch jemand?
    »Ha-hallo?«
    Wieder das Scheppern. Dieses Mal lauter.
    Amy lief wieder nach oben. Panisch rüttelte sie am Türknauf. Doch die Tür war fest verschlossen. Fast hätte Amy nach ihrer Tante geschrien. Im letzten Moment biss sie sich auf die Zunge. Diese Genugtuung wollte sie Hester nicht gönnen. Keinem von den dreien. »Verräter!« Wütend schlug sie mit der Faust gegen die Tür. Sie waren für das Unglück ihrer Familie verantwortlich. Für das Leiden ihres Vaters. Nein, diese Menschen würde sie niemals um Hilfe anflehen. Tausendmal lieber würde sie sich dem Grauen stellen, das dort unten auf sie lauerte.
    Langsam drehte Amy sich von der Tür fort. Fünf – zehn – fünfzehn Minuten harrte sie aus und wartete darauf, dass ein abscheuliches Monster um die Ecke gestürzt käme, um sie mit seinen Klauen zu zerreißen. Doch nichts dergleichen passierte.
    Unten im Keller war es still geworden. Und es war kalt. Wenigstens hatten sie ihr den Mantel gelassen. Amy seufzte leise. Wenn durch den Schrecken auch jegliche Müdigkeit verflogen war, konnte sie unmöglich für alle Ewigkeit hier oben stehen bleiben. Irgendwann würde sie sich ausruhen müssen.
    Auf Zehenspitzen schlich sie die Stufen hinab.
    Je tiefer Amy kam, desto scheußlicher wurde der Fäulnisgestank. Am Ende stand sie in einem niedrigen Raum mit einem gelbbraunen Lehmboden, dessen nasse Oberfläche im Kerzenlicht matt glänzte.
    Amy sah Dutzende alter Möbel: Schränke, Kommoden, Stühle mit zerschlissenen Polstern. Und haufenweise Kisten und Truhen aus Holz, die mit allem möglichen Zeug vollgestopft sein mussten.
    »Hallo?«, wisperte sie in die Stille.
    Plötzlich bemerkte sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung. Amy zuckte zusammen. Aber es war bloß eine struppige graue Ratte, die auf einem ausgedienten Kochkessel hockte. Offensichtlich fühlte sie sich von Amy gestört. Mit einem Satz war sie hinter einer großen Holzkiste

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