Der 13. Engel
solange dieses Monster uns folgt. Es würde die anderen sofort herbeirufen!«
»Können wir es nicht abhängen?«, fragte Amy keuchend.
»Vergiss es«, brummte Finn. »Aus der Luft kann es genau beobachten, was wir tun.«
Nur meinetwegen stecken wir in diesem Schlamassel, dachte Amy beschämt. Wenn ich nur nicht so erschöpft wäre!
Die Pause, zu der sie der Wasserspeier gezwungen hatte, war nicht lang genug gewesen, um sich zu erholen. Schon jetzt spürte Amy, dass ihre Kräfte bald wieder erlahmen würden. War es da nicht besser, sofort aufzugeben? Dem Wasserspeier zu entkommen, war doch unmöglich. Das hatte Finn selber gesagt.
Und sogar die Stadt selber schien sich gegen sie verschworen zu haben. Als sie das Ende der Gasse erreichten, standen sie plötzlich vor einer Straßensperre. Wenige Meter dahinter klaffte ein gigantisches schwarzes Loch zwischen den Häusern. Das musste einer der Schächte sein, durch die die Arbeiter zu den Abwasserkanälen gelangten, die unter der gesamten Stadt gebaut wurden.
Amy blickte sich nach einer Fluchtmöglichkeit um. Die Gasse besaß an dieser Stelle jedoch keine Abzweigung und die Häuser standen so dicht beieinander, dass sie wie unüberwindbare Mauern zu beiden Seiten aufragten.
Finn fluchte.
Über ihnen am Himmel zeichnete sich der tiefschwarze Umriss des Wasserspeiers vor dem Mond ab. Gleich würde er bei ihnen sein. Und ein zweites Mal würde er sicher nicht so dumm sein, sie entwischen zu lassen. Zudem war die Nacht weit fortgeschritten und Amy hatte noch nicht eine Minute geschlafen.
»Wir könnten die Gasse zurücklaufen und …«
»Wir wissen nicht, wie nah Tante Hester und Lucia uns schon sind«, widersprach Amy, die sich die Arme rieb. Sie war durchgeschwitzt und fröstelte. »Wir würden ihnen direkt in die Arme laufen.«
»Was sollen wir denn sonst tun? Du willst doch nicht etwa aufgeben, oder?« Mit gerunzelter Stirn starrte er an ihr vorbei auf die Baugrube. »He, ich hab eine Idee!«, rief er und sprang über die Absperrung hinweg.
»Was hast du vor?«
»Komm mit, dann siehst du es.«
Der Wasserspeier landete auf einem nahen Haus. Dachpfannen zerbarsten unter seinem Gewicht. Die Bruchstücke stürzten hinab auf die Straße und zersprangen beim Aufschlagen auf das Pflaster in winzige, scharfkantige Splitter, die Amy um die Ohren flogen. Rasch kroch sie unter der Absperrung hindurch und folgte Finn zum Rand der Baugrube. Es gab hier Stapel von rotbraunen Ziegelsteinen, riesige Wannen, in denen die Arbeiter tagsüber Mörtel mischten, und ein Holzgerüst, dessen oberes Ende aus der finsteren Grube ragte.
»Du willst doch nicht etwa …«
»Das ist unsere einzige Chance«, fiel Finn ihr ins Wort. Schon lief er über ein wankendes Brett hinüber zum Gerüst.
Hinter ihnen stieß der Wasserspeier einen markerschütternden Schrei aus.
»In den Abwasserkanälen können wir ihn abhängen«, rief Finn. »In den Schacht kann er uns unmöglich folgen. Dafür ist die Spannweite seiner Flügel viel zu groß. Und nun komm!«
Amy trat auf das Holzbrett. Es war schmal und federte bei jedem Schritt. Sie blickte nach unten. Wenn sie jetzt abstürzte, fiel sie in ein schwarzes Loch, dessen Boden sie nicht einmal sehen konnte. Sie würde sich beide Beine brechen, und das auch nur, wenn sie viel Glück hatte. Amy holte tief Luft und machte den nächsten Schritt. Ihre Knie zitterten.
»Gleich hast du es geschafft«, redete Finn beruhigend auf sie ein und streckte ihr beide Arme entgegen. »Nur noch …«
Der Wasserspeier stieß einen weiteren gellenden Schrei aus. Amy erschrak und verlor das Gleichgewicht. Sie schwankte zur Seite, sah eine Sekunde lang in den Abgrund und warf sich dann im allerletzten Moment nach vorne in Finns Arme. »Uff«, machte der und zog sie zu sich auf das Gerüst. »Da lang«, murmelte er und deutete auf eine Holzleiter.
Die beiden begannen mit dem Abstieg in die Grube. Plötzlich tauchte der Schatten des Wasserspeiers über ihnen auf. Kreischend kreiste er über dem Gerüst, machte jedoch keine Anstalten, etwas zu unternehmen. Er schien zu warten, vermutlich auf einen neuen Befehl von Lucia.
»Schneller«, keuchte Finn.
Je tiefer sie in die Baugrube hinabstiegen, desto dunkler wurde es um sie herum. Schon bald war Amy völlig blind und musste jeden Tritt der Leiter mit den Füßen ertasten. Wie weit ging es wohl noch hinunter? Trotz des kalten Winds, der an ihrer Kleidung zerrte, rann Amy der Schweiß in kleinen Bächen über die
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