Der 13. Engel
gerade fragen, was hier vor sich ging, als Tante Hester, Lord Winterhall und Lucia aus dem Dunkel der Höhle auf sie zutraten. Und sie waren nicht alleine. Die Schatten, die Amy und Henry auf ihrer Flucht vor der Riesenratte angegriffen hatten, folgten ihnen wie körperlose Geister.
»Du hast doch gewusst, dass du uns nicht entkommen kannst«, sagte Lord Winterhall und fuhr sich arrogant über seinen Walrossbart.
Tante Hester lachte triumphierend. »Und nun wirst du den Preis dafür zahlen, dass du dich gegen uns aufgelehnt hast!«
»Erst der Prinz«, sagte Lucia gebieterisch. Ihr Gesicht war nun wirklich eine Maske aus Porzellan, hinter der sich etwas Uraltes und Böses regte. »Er ist wichtiger!«
Hilfe suchend wandte sich Amy zu Prinz Henry um und stellte verblüfft fest, dass er lächelte. Wie konnte er nur? Hatte er denn nicht begriffen, dass sie alle in Lebensgefahr schwebten? Aber dann folgte Amy seinem Blick und alle Furcht fiel von ihr ab. Ihre Feinde waren verschwunden. An ihrer Stelle standen die schönsten Wesen, die Amy je gesehen hatte. Ganz in Weiß gekleidet und mit herrlich gefiederten Schwingen. Die dreizehn Engel! Die Beschützer der königlichen Familie waren gekommen …
»Aufwachen«, raunte jemand in Amys Ohr. Sie wurde geschüttelt. Widerwillig schlug sie die Augen auf. Ein Irrlicht hüpfte vor ihrem Gesicht auf und ab. Durch seinen goldenen Schimmer musterte Finn sie mit besorgter Miene. »Du hast im Schlaf gewimmert.«
»Es war nur ein Albtraum«, murmelte Amy und rieb sich schläfrig die Augen. »Zumindest anfangs, später tauchten dann die Engel auf, die uns vor Tante Hester, Lord Winterhall und dieser fiesen Lucia gerettet haben.« Sie unterdrückte ein Gähnen. Noch immer fühlte sie sich völlig ausgelaugt. »Glaubst du, dieser Traum ist ein Zeichen?«
»So was wie ein gutes Omen?«
Amy nickte.
»Na ja, vielleicht. Keine Ahnung.« Finn zuckte die Achseln. »Ich würde es sicher besser verstehen, wenn ich endlich wüsste, worum es bei dieser ganzen Sache überhaupt geht.«
Amy sah ihn groß an. Wie hatte sie das nur vergessen können? Finn hatte ja nicht die geringste Ahnung! In knappen Worten schilderte sie ihm, was sie über die Verschwörung wusste und dass ihr Vater alleine wegen Tante Hester und ihrer fiesen Freunde im Gefängnis saß.
Finn kratzte sich am Kopf. »Wenn sie Prinz Henry nicht als König wollen, wer soll es dann werden?«
»Ich tippe mal auf Lord Winterhall«, sagte Amy. »Er ist der Einzige, der etwas vom Regieren versteht, obwohl …« Sie zögerte.
»Was?«, bohrte Finn nach.
»Aus dieser Lucia werde ich nicht recht schlau. Ich weiß nicht, welche Rolle sie bei dem Ganzen spielt.« Amy verzog das Gesicht. »Lord Winterhall hat jedenfalls Angst vor ihr.«
»Hm, glaubst du, es sind noch mehr Menschen in die Verschwörung verwickelt?«
Amy musste an den Zeitungsartikel auf dem Schreibtisch ihres Vaters denken und berichtete Finn davon. »So viele Leute sind verschwunden«, sagte sie anschließend bekümmert. »Alleine hätten die drei das nie hinbekommen. Außerdem wimmelt es im Schloss nur so von Beratern, Ministern, Höflingen und Hofdamen. Das sind mächtige Zauberer und Hexen, die würden es doch nie zulassen, dass Prinz Henry etwas geschieht. Wenigstens ein paar davon müssen mit den Verrätern unter einer Decke stecken.«
»Je mehr Leute von einer Verschwörung wissen, desto schwieriger wird es, sie geheim zu halten«, wandte Finn ein. »Trotzdem müssen wir ab sofort sehr vorsichtig sein und uns gut überlegen, wem wir trauen.«
Amy, die an ihrer Unterlippe geknabbert hatte, nickte leicht.
»Verschwinden wir erst mal aus der Kanalisation.« Finn stemmte sich ächzend in die Höhe. Ihm schien alles wehzutun. »Wir sind schon viel zu lange hier. Das ist nicht gut.«
Sie entschieden sich für das linke Abwasserrohr, weil es in der Richtung verlief, in die Finn ohnehin wollte. Wie schon zuvor schickte er ein Irrlicht voraus, damit es ihnen den Weg leuchten konnte. Nach einer Stunde kamen sie zu einer weiteren Baugrube. Auch hier gab es ein Gerüst und Leitern, die nach oben führten. Lange konnten sie nicht geschlafen haben, denn als sie oben ankamen, begann gerade der Morgen zu dämmern.
Die Baustelle befand sich am Rande eines großen Platzes, den die umstehenden Wohnhäuser wie ein Schutzwall umgaben. Trotz der frühen Morgenstunde brannte hinter den meisten Fenstern bereits Licht. Amys Blick wanderte zu dem plätschernden Springbrunnen in
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