Der 13. Engel
Wange. Es kümmerte sie nicht, ebenso wenig wie das schwarze Etwas, das sie jeden Moment eingeholt haben würde. Bestimmt kam es von Tante Hester. Irgend so eine scheußliche Höllenkreatur, die sie mit ihrer Magie herbeigerufen hatte. Wenigstens war Finn in Sicherheit.
Ein schwacher Lufthauch streifte Amys Gesicht. Da war es auch schon. Es packte sie am Arm und … »Nun steh schon auf, sonst hat es uns gleich«, schimpfte Finn verzweifelt.
Er ist zurückgekommen, dachte Amy erstaunt. Ein warmes Gefühl breitete sich in ihrem Bauch aus und gab ihr neue Kraft.
»Du schaffst das«, murmelte Finn und zog sie auf die Füße.
Zu spät!
Der Schatten hatte sie eingeholt und flog über sie hinweg, um ein Stück vor ihnen auf der Straße zu landen. Unter lautem Ächzen setzte die Kreatur auf dem Boden auf. Dann faltete sie ihre Schwingen zusammen, die dabei knirschten, als rieben zwei Ziegelsteine aneinander. Selbst am Boden und mit eingeschlagenen Flügeln war das Wesen fast doppelt so groß wie Amy. Es sah aus, als sei es einem Albtraum entschlüpft. Ein einzelner bleicher Mondstrahl hatte sich auf sein Gesicht verirrt und entblößte eine grausame Dämonenfratze mit Schlitzaugen, die unter einer gewölbten Stirn hervorschauten. Das Maul hatte es weit aufgerissen, sodass man lange Hauer erkennen konnte, die wie die Stoßzähne eines Ebers gebogen waren.
Finn starrte den Dämon ungläubig an. »Es ist ein Gargoyle!«
»Ein was?« , flüsterte Amy, ohne das Biest auch nur einen Moment lang aus den Augen zu lassen.
»Ein Wasserspeier.« Finn rückte ein Stück näher an Amy heran. »Eine Steinfigur, die normalerweise die Regenrinnen von Kirchen und Kathedralen ziert. Aber irgendwer hatte dieser da Leben eingehaucht.«
Tante Hester!, war Amys erster Gedanke. Gleich darauf runzelte sie die Stirn. Eine Steinfigur zu verhexen war etwas anderes, als Zuckerdosen und Tabletts durch die Luft schweben zu lassen. »Lucia!«, spie Amy den Namen der Frau mit dem Porzellangesicht aus. Gewiss war sie eine viel mächtigere Zauberin als ihre Tante. Doch wie war es Hester so schnell gelungen, sie über Amys Flucht zu informieren? Zauberei? Aber vielleicht war Lucia auch nie weit fort gewesen.
»Was sollen wir jetzt tun?«
»Ich weiß es nicht«, hauchte Finn.
»Warum hat er uns noch nicht angegriffen?«
Als hätte der Wasserspeier nur auf diese Frage gewartet, streckte er seine langen dürren Arme aus, was ihn wie einen Schlafwandler aussehen ließ. Gleichzeitig ertönte ein widerlich schmirgelndes Geräusch, das in den Ohren schmerzte. Sofort sprang Finn schützend vor Amy – was nicht nötig gewesen wäre, denn die Schritte des Wasserspeiers waren so langsam und behäbig, dass sie einfach nur zurückzuweichen brauchten. Tatsächlich bewegte er sich wie eine dieser mechanischen Aufziehpuppen, die man mit einem Schlüssel aufzog und die dann klappernd vorwärts marschierten.
»Da stimmt etwas nicht«, meinte Finn sofort. »Der Gargoyle ist bloß eine Ablenkung.«
»Was meinst du?«
»Er soll uns in Schach halten, bis deine Tante und ihre Freunde eintreffen.« Finn packte Amys Hand. »Wir laufen jetzt genau auf ihn zu und tauchen dann im letzten Moment unter seinen Armen weg.«
»Bist du verrückt?«, rief sie erschrocken.
»Die Straße ist breit genug. Außerdem ist er viel zu langsam.«
»Vielleicht will er uns nur in Sicherheit wiegen? Und wo willst du überhaupt hin?« Die ganze Zeit über waren sie durch die dunklen Straßen gelaufen, um sich möglichst weit von Tante Hesters Haus zu entfernen. Längst hatte Amy die Orientierung verloren und vermutlich ging es Finn nicht besser. Doch zu ihrer Überraschung sagte er: »Wir sind auf dem Weg zu den Docks. Ich kenne dort ein gutes Versteck.«
Sie schlüpften an dem Wasserspeier vorbei und noch bevor er sich nach ihnen umgedreht hatte, waren sie schon ein gutes Stück weiter. Die Bestie stieß ein schrilles, zorniges Kreischen aus, das das ganze Viertel weckte. In den Häusern ringsum flammten Kerzen auf, Fenster wurden aufgerissen und verschlafene, aber ärgerlich klingende Stimmen klagten über die nächtliche Ruhestörung.
Mit seinem Schrei muss dieses Mistding Lucia verraten haben, wo wir sind, dachte Amy wütend. »Ist es noch weit?«
»Viel zu weit«, murmelte Finn und schnaubte. »Viel zu weit.«
Hinter ihnen erklang wieder der Flügelschlag des Wasserspeiers. Fliegen konnte er jedenfalls besser als laufen.
»Und ich kann dich nicht zu dem Versteck bringen,
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