Der 13. Engel
Greymore prompt das Tempo. Auch als Amy und Finn mit der Zeit erlahmten, blieb der Abstand trotzdem der gleiche. Die beiden Männer schienen eine höllische Freude daran zu haben, sie wie Tiere vor sich herzutreiben und ihnen zuzurufen, was sie mit ihnen anstellen würden, wenn sie sie erst in die Finger bekämen. Sie spielen mit uns Katz und Maus, dachte Amy. Sie hätten uns längst einholen können, aber das würde ihnen den ganzen Spaß verderben!
Dieses Mal war es Finn, der kurz davor stand, aufzugeben. Er drückte sich die Hand in die Seite und schnaufte wie ein gestrandeter Wal. »Ich werde … stehen bleiben … und … sie ablenken, damit … du entkommen … kannst.«
»Kommt nicht in Frage«, schimpfte Amy und verstärkte den Griff um seine Hand. »Ich lass dich nicht zurück bei diesen Wahnsinnigen!«
»So könnte … könnte es wenigstens einer … von uns schaffen.«
»Und was glaubst du, wie lange ich ohne dich auf der Straße überleben werde? Rede keinen Unsinn!« Ihr Gesicht hatte einen entschlossenen Ausdruck angenommen. Wenn schon, dann würden sie sich ihnen beide stellen. Amy wollte es Finn gerade sagen, als von links ein Automobil auf sie zugeschossen kam. Aber was für eins! Es war marineblau und hatte goldene Kotflügel. Amy riss Finn zurück, der zu erschöpft war, um die herannahende Gefahr zu bemerken. Mit quietschenden Reifen kam das Automobil vor ihnen zum Stehen. Die Beifahrertür klappte auf. »Mitfahrgelegenheit gefällig?«, fragte der Mann hinter dem Steuer.
Amy konnte ihr Glück kaum fassen. Ohne zu fragen stieg sie ein und zog Finn mit sich.
»Wagt es ja nicht«, schrie Mr Black, der mit ausgestreckten Händen angerannt kam.
Der Fahrer gab Gas und das Automobil zischte los.
Ein Meer von Sternen
»So, die hätten wir abgehängt«, sagte der Fahrer und trat auf die Bremse. »Tut mir leid, aber hier trennen sich unsere Wege.«
Amy sah ihn verwirrt an. »Wollen Sie uns nicht verraten, wer Sie sind?«
Der Mann schüttelte den Kopf. »Und nun steigt bitte aus. Ich habe es eilig.«
»Sie gehören zu ihnen, nicht wahr?«, fragte Finn, nachdem sie aus dem Automobil geklettert waren.
»Keine Ahnung, was du meinst.« Der Fahrer zwinkerte den beiden zu und fuhr davon.
Amy blickte ihm verdutzt nach. Seltsam, dachte sie. Sobald die einen auftauchen, sind die anderen nicht fern. Sie zog die Brauen zusammen. Die Guten und die Bösen schienen immer ganz genau zu wissen, was die andere Seite gerade tat. Und dennoch kam es zu keinem offenen Kampf zwischen ihnen.
»Siehst du, die alte Frau hat sich geirrt«, unterbrach Finn ihre Gedanken. »Sie sagte, dass ihre Leute sich nicht auch noch um uns kümmern könnten. Und jetzt haben sie es doch getan!«
»Wir sollten uns nicht darauf verlassen, dass sie jedes Mal zur Stelle sind, wenn wir in der Klemme stecken«, entgegnete Amy. »Als Tante Hester mich in den Keller gesperrt hat, warst du es, der mich gerettet hat.«
»Vielleicht wären sie noch gekommen.«
Amy schüttelte den Kopf. »Sie haben Angst.«
»Was?« Finn starrte sie ungläubig an.
»Der Gaukler, der Pirat und diese alte Frau … sie alle fürchten sich vor Lucia und den anderen. Darum haben sie noch nichts gegen die Verschwörer unternommen.« Amy blickte ihn ernst an. »Sie haben uns vor ihnen gewarnt und sogar gerettet. Aber nur, wenn sie dadurch nicht selber in Gefahr gerieten.«
»Und?«
Amy holte tief Luft. »Sie sind schwach. Und darum dürfen wir uns nicht alleine auf sie verlassen.«
Finns Augen glitzerten. »Wir stecken also nicht die Köpfe in den Sand …«
»Niemals.«
Sie machten sich nicht sofort auf den Rückweg zu ihrem Versteck. Finn wollte zuvor noch etwas zu essen besorgen, da sie beim Frühstück die kärglichen Reste ihrer Vorräte aufgebraucht hatten. Er ließ Amy kurz alleine, die sich solange in einem Hauseingang verbarg. Als er wenig später wieder zu ihr stieß, war sein Gesicht gerötet und er völlig außer Atem. Dieses Mal verkniff sich Amy zu fragen, woher das Brot und das Gemüse stammten.
Am Nachmittag streiften sie durch die Weberei und trugen zusammen, was brennbar war. Ihr Holzvorrat, der von dem zerbrochenen Schrank stammte, ging allmählich zur Neige. Dabei brauchten sie das Feuer dringend, denn die Nächte in diesem riesigen leeren Gemäuer fielen unbarmherzig kalt aus. Sicher hatte das auch etwas mit der Nähe zum Fluss zu tun, von dem jeden Abend feiner weißgrauer Nebel aufstieg, der die Oktobernächte noch feuchter und
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