Der 13. Engel
lesen?« Plötzlich kniff er die Lider zusammen, wie jemand, der trotz Brille noch immer sehr kurzsichtig ist. Gleich darauf huschte ein Ausdruck des Wiedererkennens über sein zerfurchtes Gesicht. »Amy, bist du das?«
»Ja, Mr Burbridge, ich bin es. Und das ist mein Freund Finn.«
»Mit dem Turban und diesem abgetragenen Mantel hätte ich dich fast nicht erkannt.« Nun reckte er den Kopf noch ein Stück weiter heraus, um über die beiden hinweg in den Korridor zu blicken. »Niemand in der Nähe«, brabbelte er vor sich hin. »Gut, sehr gut! Und nun kommt schnell herein, bevor euch noch jemand sieht.« Mit seinen knochigen Händen ergriff er die beiden bei den Schultern und schob sie in sein Büro. Sorgfältig verschloss er die Tür hinter ihnen.
Es lag eine Weile zurück, dass Amy das letzte Mal hier gewesen war. Viel hatte sich seitdem nicht geändert. Noch immer war der Raum voller Bücher und Schriftrollen und noch immer roch es hier nach Papier, Staub und Sandelholz, was von den Duftsäckchen herrührte, die in jedem Regal lagen. Amy rümpfte die Nase. Angeblich hielt der würzige Geruch Ungeziefer fern. Vermutlich sollte er ebenso Besucher daran hindern, sich allzu lange an diesem Ort aufzuhalten. Denn Amy hatte den alten Bibliothekar als einen sehr menschenscheuen Mann in Erinnerung, der den Großteil des Tages und der Nacht in diesem Büro zubrachte.
»Oh weh, Amy, was mir da zu Ohren gekommen ist! Dein armer, armer Vater, einfach schrecklich!« Mr Burbridge zog ein riesiges Taschentuch aus seinem Ärmel und schnäuzte sich die Nase. »Aber was rede ich da? Ihr beiden seid ja auch nicht viel besser dran. Überall suchen sie euch. Es heißt, ihr wärt in die Pläne deines Vater eingeweiht gewesen.«
»Ich bin keine Verräterin«, protestierte Amy mit hochrotem Kopf. »Und auch nicht mein Vater oder Finn. Das sind alles dumme Lügen!«
Mr Burbridge hob beschwichtigend die Hand. »Würde ich etwas anderes annehmen, wärt ihr jetzt nicht in meinem Büro. Kommt, setzen wir uns, so lässt es sich besser reden.« Er führte sie zu einem Tisch, auf dem sich mehrere unterschiedlich hohe Bücherstapel türmten. Behutsam schob der alte Bibliothekar sie zur Seite. »Setzt euch, setzt euch«, forderte er sie auf. »Mögt ihr Tee? Ich habe gerade frischen aufgebrüht.«
Amy und Finn nickten freudig, nachdem sie sich in den vergangenen Tagen ausschließlich mit Wasser hatten begnügen müssen. Mr Burbridge wackelte mit dem Zeigefinger und schon kamen aus einem Schrank zwei Tassen angerauscht, die mit einem dumpfen Klong vor den beiden aufsetzten.
»Die Kanne werde ich lieber tragen«, erklärte Mr Burbridge mit einem beschämten Lächeln. »Meine Augen sind nicht mehr die besten und ich will den guten Tee nicht an den Teppichboden vergeuden. Der hat schon genug Flecken.« Er trippelte hinüber zu seinem Schreibtisch und kehrte mit einer bauchigen Teekanne zurück, aus deren Schnabel schimmernder Dampf aufstieg. Er füllte die Tassen der beiden. Dann setzte er sich leise ächzend auf den Stuhl gegenüber.
»Ich wusste gleich, dass da etwas faul ist, als ich von der Verhaftung deines Vaters erfuhr«, sagte er betrübt. »Was ist nur los in dieser Stadt?«
»Nichts Gutes, Sir«, sagte Finn ernst.
Mr Burbridge musterte ihn und Amy aufmerksam. »Ihr wisst es, nicht wahr? Ihr wisst es!« Aufgeregt fuhr er sich mit der Rechten über den Mund. »Wollt ihr es mir verraten?«
Amy tauschte einen fragenden Blick mit Finn, der zögerlich nickte. »Also gut, hören Sie zu.« Sie erzählte ihm, was ihnen widerfahren war und was sie in den vergangenen Tagen herausgefunden hatten. Einzig die verlassene Weberei, ihr Versteck, erwähnte sie nicht.
»Hmpf, hmpf, hmpf«, machte Mr Burbridge anschließend. Es war alles, was er für eine ganze Weile von sich gab. Gerade als Amy die Stille unangenehm zu werden begann, sagte er: »Dein Vater hat schon immer den richtigen Riecher gehabt, wenn es darum ging, etwas Großem auf die Spur zu kommen. Das musst du von ihm haben, kleine Amy.« Mr Burbridge holte hörbar Luft. »Oh, das hat er nicht verdient! Das habt ihr alle nicht verdient!« Er warf Amy einen mitleidigen Blick zu. Tränen glitzerten in seinen Augenwinkeln. »Ich mag deinen Vater sehr.«
Ein Kloß hatte sich in Amys Hals gebildet. »Ich … ich bin sicher, dass alles wieder gut wird.«
Mr Burbridge schenkte ihr ein trauriges Lächeln. »Ich hoffe es, ich hoffe es so sehr.« Er richtete sich ein wenig auf. »Nun, ihr seid
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