Der 13. Engel
kälter machte, als sie ohnehin schon waren.
Nun stand Amy am Fenster, das hinaus zum Hof der Weberei ging. Den mottenzerfressenen Vorhang hatte sie zur Seite geschoben, um einen besseren Blick auf den Nachthimmel zu haben. In der samtenen Schwärze über der Stadt funkelten Millionen und Abermillionen von Sternen.
Ob er gerade dasselbe tut?, fragte sie sich. Früher hatten sie und ihr Vater oft zusammen im Garten hinter ihrem Haus gestanden und die Sterne beobachtet. Dabei hatten sie sich vorgestellt, wie es auf anderen Welten aussah. Ob die Menschen dort oben – wenn es denn welche waren – auch zaubern konnten? Waren sie vielleicht glücklicher? Oder hatten sie mit genau den gleichen Problemen und Sorgen zu kämpfen wie sie?
Amy ließ den Kopf nach vorne sinken, bis ihre Stirn gegen das kalte Fenster stieß. Langsam atmete sie aus und sah zu, wie das Glas beschlug. Sie brauchten unbedingt einen Plan! Sie schloss die Augen und es wurde dunkel um sie herum.
Was hatten sie bisher herausgefunden? Lord Winterhall wollte den Thron und Lucia half ihm, weil sie sich an Prinz Henry rächen wollte. Tante Hester hatte sich den Verrätern angeschlossen, weil sie an die Ziele der Verschwörer glaubte, damit sie nicht länger alleine sein musste und weil Lucia ihr Macht und noch größeren Reichtum versprochen hatte. Aber war es wirklich ihre Tante gewesen, die sich ihre neuen »Freunde« ausgesucht hatte oder hatte vielleicht Lucia sie ausgewählt, weil sie insgeheim hinter Amy her war? Noch immer war Amy unbegreiflich, warum die Frau mit dem Porzellangesicht eine solche Gefahr in ihr sah. Sie seufzte. Prinz Henry sollte sterben und sie hatten nicht einmal die Möglichkeit ihn zu warnen. Und passieren würde es mit großer Wahrscheinlichkeit am Tag seiner Krönung. Oh Papa, dachte Amy. Wenn du nur hier wärst, du wüsstest bestimmt, was zu tun wäre! Plötzlich zuckte sie zusammen. Wie hatte sie das vergessen können?
Amy riss den Kopf in die Höhe. Das Notizbuch!
Tante Hester hatte es ihr zwar abgenommen, aber Amy erinnerte sich noch genau, was darin gestanden hatte. Ihr Vater war in der Bibliothek seines alten Freundes Klytus Burbridge auf eine Spur gestoßen. Ein altes Schriftstück, das dieser für ihn übersetzen sollte. Es hatte etwas mit dem ersten König und der Legende der dreizehn Engel zu tun.
Amy schürzte die Lippen. Es wollte ihr zwar nicht einleuchten, wie ihnen das gegen die Verschwörer weiterhelfen konnte, andererseits hätte ihr Vater es sicher nicht erwähnt, wenn er es nicht für wichtig gehalten hätte. Sie drehte sich um und lief zu Finn hinüber, der vor dem Kamin kniete und alte Holzspindeln in die knackenden Flammen warf. »Wir müssen zu Klytus Burbridge«, sagte Amy aufgeregt.
Er sah zu ihr auf. »Zu wem?«
Sie erklärte es ihm.
Finn hörte mit gerunzelter Stirn zu, dann sagte er: »Wie sollte uns das im Kampf gegen Lucia helfen?«
»Vergiss nicht, was die alte Frau heute gesagt hat. Es geht ihr nicht um Macht, sondern um Rache.«
»Du meinst, darin könnte stehen, was die Familie des Prinzen ihr angetan hat?«, fragte er skeptisch. »Wie sollte das gehen? Du hast selber gesagt, dass dieses Schriftstück bereits uralt ist.«
»Hast du noch nie etwas von einer Blutfehde gehört?«, hielt ihm Amy entgegen. »Es gibt Familien, die sich über Jahrhunderte bekriegen, nur weil der eine den anderen beleidigt oder ihm etwas weggenommen hat, an das sich niemand mehr erinnert. Die Bücher sind voll von solchen Geschichten.«
»Ich habe noch nie ein Buch gelesen«, sagte Finn kleinlaut.
»Oh, na ja, ist nicht schlimm«, sagte Amy und ließ sich auf das Sofa plumpsen.
Staub wirbelte auf, sodass beide heftig niesen mussten. »Und was haben wir davon … hatschi«, fragte Finn, »wenn wir wissen, warum Lucia … hatschi … sich an Prinz Henry rächen will?«
»Ich bin mir nicht …« Doch plötzlich leuchteten Amys Augen auf. »Das ist es!« Sie sprang auf und grinste triumphierend auf Finn hinab, der immer noch vor dem Kamin hockte. »Wenn wir erst den Grund für ihren Hass kennen, fällt es uns auch leichter, sie zu verstehen. Und wenn wir sie durchschauen, finden wir auch ihren Schwachpunkt. Dann können wir sie aufhalten und Lord Winterhall würde mit ihr seine mächtigste Verbündete verlieren. Das würde ihn und meine Tante zum Aufgeben zwingen.«
Finn kratzte sich am Kopf. Nach einer Weile sagte er: »Wir kennen doch schon ihren Schwachpunkt: Sie kann niemanden willentlich verletzten.
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